Identität ist ein Zauberwort der Gegenwart. Der Wunsch nach «Zugehörigkeit» bewegt. So spielt für viele Menschen auch Religion immer dann eine wichtige Rolle, wenn es gilt, zu sagen, wer man ist. Dies zeigen die Ergebnisse eines deutsch-schweizerischen Forschungsprojekts.
Antonius Liedhegener, Anastas Odermatt, Sie haben in einer Repräsentativbefragung nach der gesellschaftlichen Rolle von religiösen und sozialen Identitäten gefragt. Warum sind diese so wichtig und welche stehen bei den Menschen ganz zuoberst?
Antonius Liedhegener: Seit geraumer Zeit erleben wir eine Rückkehr der Religion in die Politik. In Demokratien ist Religion so kontrovers wie schon lange nicht mehr. Man muss sich neu mit ihr auseinandersetzen. Positiv wie negativ. Das trifft vor allem «den Islam», aber längst nicht allein.
Anastas Odermatt: Die Studie hat gezeigt, dass es vielen Menschen in der Tat wichtig ist, zu wissen, wo sie hingehören. An erster Stelle bei den sozialen Identitäten stehen die Familie und der Freundes- und Bekanntenkreis. Das wussten wir schon, aber welche Gruppen kommen danach? Dazu hat unsere Forschung nun aufschlussreiche Erkenntnisse geliefert.
Welche?
Liedhegener: Es ist beispielsweise so, dass für 50 Prozent in der Schweiz und 57 Prozent in Deutschland Religion eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielt. Gleichzeitig fällt auf, dass an den Rändern der Meinungspalette für Religion die Antworten besonders stark vertreten sind. 13 Prozent der Befragten aus der Schweiz gaben an, dass ihnen Religion äusserst wichtig ist. Ähnlich viele sehen es genau anders herum: 15 Prozent ist ihre Religionszugehörigkeit völlig unwichtig. Die Mitte, also diejenigen, denen religiöse Fragen eher gleichgültig sind, die dazu keine Meinung haben, ist vergleichsweise klein.
Interessant ist auch, dass die Frage der Religion gesellschaftlich sowohl trennende als auch verbindende Elemente ausweist. Was haben Sie diesbezüglich herausgefunden?
Religion wirkt in der Tat sehr unterschiedlich. Bei der Frage etwa, ob jemand aufgrund seiner Religionszugehörigkeit Diskriminierung erfährt, hat sich gezeigt, dass in der Schweiz insbesondere Menschen aus evangelischen Freikirchen und Muslime stark betroffen sind. 69 beziehungsweise 56 Prozent berichten von Diskriminierungserfahrung.
Was sind die Gründe dafür?
Odermatt: Es gibt einen Zusammenhang mit der Grösse: Je kleiner die Gemeinschaft, desto stärker die Diskriminierungserfahrung. Aber Diskriminierung kommt überall vor; so geben beispielsweise knapp ein Fünftel der Leute, die keiner Religion angehören, an, dass auch sie diskriminierende Erfahrungen gemacht haben aufgrund ihrer Nicht-Zugehörigkeit.
Wir dürfen auch nicht ausser Acht lassen, dass der Hauptgrund für Diskriminierung nicht die Religionszugehörigkeit ist, sondern das Geschlecht.
Wir dürfen auch nicht ausser Acht lassen, dass der Hauptgrund für Diskriminierung nicht die Religionszugehörigkeit ist, sondern das Geschlecht. 54 Prozent der Frauen in der Schweiz sagen, dass sie, weil sie eine Frau sind, diskriminierende Erfahrungen gemacht haben. Damit hätten wir nicht gerechnet.
Und wer diskriminiert am meisten?
Liedhegener: Dies haben wir anhand der Heiratsfrage ausfindig gemacht: Würden Sie jemanden heiraten, der nicht derselben religiösen Gruppierung angehört wie Sie? Mit 53 Prozent Nein-Anteil stehen da die Freikirchen in der Schweiz zuoberst, gefolgt von den Muslimen mit 39 Prozent. Aber auch ein Viertel aller Christen gibt an, jemanden nicht heiraten zu wollen, der religiös anders verwurzelt ist. Und sogar unter den Nicht-Religiösen oder jenen ohne Religionszugehörigkeit gibt es bei rund 20 Prozent die gleichen Vorbehalte.
Erstaunt Sie diese relativ grosse Intoleranz?
Odermatt: Eigentlich hätte man ja erwarten können, dass vielen Menschen heute nicht mehr so wichtig ist, was ein potenzieller Lebenspartner für religiöse Vorlieben hat. Aber offenbar ist es so, dass Religion immer noch ein trennendes Potenzial hat.
Wie steht es um die Toleranz gegenüber unseren demokratischen Werten?
Wir haben auch dazu drei Fragen gestellt und wollten zum Beispiel wissen, ob die Regeln und Werte einer Religion im Konfliktfall Vorrang vor der Verfassung haben oder nicht. Wenn man sich die Zahlen anschaut, sieht man, dass es im freikirchlichen und muslimischen Umfeld relativ betrachtet eine Häufung von Personen gibt, die solche antidemokratische Haltungen haben. Zentral ist aber, dass solche Meinungen in allen Religionsgemeinschaften vorkommen.
Sicher müssen wir im Bereich der antidemokratischen Einstellungen mit der Forschung noch weiter in die Tiefe gehen.
Dennoch: Die Angst vor einem radikalen, demokratiefeindlichen Islam besteht. Sind die Bedrohungsszenarien durch «den Islam» berechtigt?
Liedhegener: Grundsätzlich nein. Bei der Frage nach der religiösen Freiheit besteht beispielsweise maximaler Konsens, 96 Prozent der Muslime stimmen dieser Frage zu. Sicher müssen wir im Bereich der antidemokratischen Einstellungen mit der Forschung noch weiter in die Tiefe gehen und die Frage stellen, warum diese und ähnliche Einstellungen bei Muslimen häufiger anzutreffen sind. Erste Analysen deuten darauf hin, dass solche Haltungen mit dem Bildungsgrad, mit politischen Einstellungen nach rechts und der Religiosität , aber auch mit Diskriminierungs- und Ungleichheitserfahrung zu tun haben.
Odermatt: Was in der Befragung auch herauskam, war, dass die grosse Mehrheit der Menschen, die zu solchen extremen Ansichten neigen, einer Pfarrei, einer Community oder einem Moschee-Verein zugehörig sind. Darum ist es wichtig, dass in dieser Frage mit den jeweiligen religiösen Gemeinschaften gesprochen wird und der Kontakt vorhanden ist.
Im Umfeld von Religionsgemeinschaften sind auch heute noch relativ viele Menschen aktiv.
Früher waren viele Menschen im kirchlichen Umfeld, zum Beispiel in der Pfarrei, aktiv. Solches Engagement, denkt man, ist heute fast gänzlich verschwunden. Da kommt die Studie auf erstaunliche Ergebnisse.
Liedhegener: Tatsächlich. Im Umfeld von Religionsgemeinschaften sind auch heute noch relativ viele Menschen aktiv. Daher rangiert das Engagement im religiösen Kontext auf Platz vier – hinter den Bereichen «Sport und Bewegung», «Freizeit und Geselligkeit» und «Kultur und Musik». Das ist einigermassen erstaunlich. Vor allem aber gaben 63 Prozent der engagierten Menschen im religiösen Bereich an, dass sie dabei auf Menschen treffen, denen sie sonst nicht begegnen würden. Das heisst: Soziales Engagement im religiösen Umfeld fördert die Vernetzung und den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Und den engagierten Menschen ist ihr Engagement wichtig.
Welches sind die wichtigsten Erkenntnisse aus der Befragung?
Odermatt: Es sind drei Punkte. Erstens: Religion ist als soziale Identität vielen Menschen wichtig. Obwohl Religiosität auf der individuellen Ebene für viele eine untergeordnete Rolle spielt, ist sie gesamtgesellschaftlich erstaunlich bedeutend. Zweitens haben wir gesehen, dass religiöse Identität sehr ambivalent ist. Für die meisten stellt Religion kein Problem für das gesellschaftliche Zusammenleben dar oder fördert dieses sogar, gleichzeitig sorgt die Frage auch für Trennendes und für Diskriminierung.
Liedhegener: Und den dritten Punkt erachten wir vor allem sozialwissenschaftlich als besonders interessant. Wir haben 21 Identitäten erfragt – Familie, Beruf, politische Haltung, Religion, Schichtzugehörigkeit etc. Aufgrund der Analyse haben wir zu unserem eigenen Erstaunen fünf relativ stabile Gruppen herausfiltern können, die hinsichtlich der Wichtigkeit der unterschiedlichen Identitäten ähnlich ticken. Dadurch, dass Religion die Menschen beschäftigt, zur Stellungnahme herausfordert, strukturiert die religiöse Identität diese fünf Konfigurationen besonders stark – und damit strukturiert sie die Gesellschaft stärker, als uns gemeinhin bewusst ist.
3000 Menschen befragt
«Wie Religion ‹uns› trennt – und verbindet» heisst der Titel des Berichts der repräsentativen Umfrage «KONID Survey 2019» von Forschenden der Universitäten Luzern und Leipzig. Die Umfrage ist Teil des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten deutsch-schweizer Forschungsprojekts «Konfigurationen individueller und kollektiver religiöser Identitäten und ihre zivilgesellschaftlichen Potentiale (KONID)». Der KONID Survey 2019 ist eine repräsentative Bevölkerungsumfrage für die Wohnbevölkerung der Schweiz und Deutschlands im Alter von über 16 Jahren zum Thema Zivilgesellschaft, soziale Identitäten und Religion. In der Schweiz und in Deutschland haben sich im ersten Halbjahr 2019 jeweils über 3000 Befragte an der Umfrage beteiligt. Das Projekt wird von den Professoren Antonius Liedhegener an der Universität Luzern und Gert Pickel an der Universität Leipzig geleitet. Weitere Autorinnen und Autoren des Berichts sind die Teammitglieder Anastas Odermatt (Luzern), Yvonne Jaeckel und Alexander Yendell (beide Leipzig). Das KONID-Projekt steht für den quantitativen Teil des interdisziplinären Forschungsverbundes «Soziale Gruppen und religiöse Identitäten in ziviler Gesellschaft (RESIC)», an dem die Professoren Martin Baumann (Luzern) und Alexander K. Nagel (Göttingen) mit zwei qualitativen Projekten beteiligt sind. Bericht «Wie Religion ‹uns› trennt – und verbindet» / Forschungsverbund KONID