Im gefühlten Overload unserer Kommunikationsgesellschaft sind gewisse Bücher wie Inseln. Wann immer man sie zur Hand nimmt, führen sie einen zu sich selbst zurück. Das können ganz unter schiedliche Bücher sein. Ein Beispiel aus der spirituellen Abteilung ist für mich «Mystik und Widerstand» von Dorothee Sölle (1929–2003), mittlerweile ein Klassiker moderner spiritueller Literatur.
Sölles Buch ist eine Entdeckung für alle, die sich nicht für instantmässige Glücksversprechen interessieren und keinem als Selbsthilfe getarnten Ego-Trip verschreiben wollen. Die Autorin, eine der bekanntesten und profiliertesten Theologinnen des 20. Jahrhunderts, vertieft sich in die mystische Tradition des Christentums sowie anderer Kulturen und Religionen. Eine Fülle von Textzeugnissen erschliesst sie theologisch, aber in einer Sprache, die unmittelbar anspricht. Als «Orte» mystischer Erfahrung benennt sie die Natur, die Erotik, das Leiden, Gemeinschaft und Freude; in einem späteren Werk auch den Tod.
Mystik ist eine Kommunikation der anderen Art. Worte und Meinungen werden immer weniger im erfahrungsmässigen Zugang zum letztlich Unsagbaren. Dennoch schliesst die Erfahrung das Denken nicht aus. Sölle zeigt, dass mystisches Empfinden nicht anti-intellektuell ist und ebenso wenig nur private Innerlichkeit sucht. Mystik ohne Ethik wäre blosser Mystizismus. Die Überwindung der Selbstzentrierung führt zum Widerstand gegen alles, was die Würde von Menschen missachtet. Ein vielleicht unerwartetes Beispiel eines modernen Mystikers ist Dag Hammarskjöld, bis zu seiner Ermordung 1961 hochrangiger Politiker und Generalsekretär der UNO. Die nach seinem Tod gefundenen Tagebuchnotizen («Zeichen am Weg») beschreibt Sölle als ein eindrückliches Beispiel unter vielen.
Ich habe «Mystik und Widerstand» während meines Theologiestudiums von einem Freund geschenkt bekommen, notabene einem erklärten Agnostiker. Aber Sölle, das geht – gut sogar.
Nicola Ottiger
Dozentin für Dogmatik und Liturgiewissenschaft am Religionspädagogischen Institut (RPI)
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