Anarchie wird oft als negative Folge des Versagens einer staatlichen Ordnung betrachtet. Doch, kann dieser bereits von Platon und Aristoteles kritisierte «Zustand der Sklaven ohne Herren» für eine Gesellschaft auch positive Effekte haben?
Auch wenn seine Vorläufer mindestens bis in die chinesische und griechische Antike zurückverfolgt werden können, ist der Anarchismus im 19. Jahrhundert als politische Bewegung entstanden. Er stellte einen Teil der damals in vielen europäischen Ländern erstarkenden sozialistischen Bewegung dar. Die vernunftrechtliche Basis dafür schaffte William Godwin mit seinem 1793 erschienenen Werk «Enquiry Concerning Political Justice», einer philosophischen Streitschrift gegen den Staat und das Prinzip der Herrschaft von Menschen über Menschen im Allgemeinen. Pierre-Joseph Proudhon bezeichnete sich knapp 50 Jahre danach als einer der Ersten überhaupt als Anarchist und postulierte die Anarchie als erstrebenswerte soziale Ordnung. Neben Proudhons sogenanntem mutualistischen Anarchismus werden der individualistische Anarchismus Max Stirners, der kollektivistische Anarchismus Michael Bakunins und der kommunistische Anarchismus Peter Kropotkins zu den hauptsächlichen klassischen Strömungen gezählt.
Rückgriff auf ursprüngliche Bedeutung
Was hat all diese Menschen dazu bewogen, sich so intensiv mit der Anarchie zu beschäftigen – steht sie doch nach Auffassung vieler schlicht für Chaos und Gewalt? Es ist, wie in meinem im Nationalfonds- Projekt «Enlightened Anarchism: What Can We Learn from the Anarchist Critique of the State, the Law and Authority?» unter der Leitung von Rechtsprofessor Klaus Mathis verorteten Dissertationsprojekt herausgearbeitet wird, ein anderes Verständnis der Anarchie als das gemeinhin verbreitete. Anarchie wird im Gegensatz dazu als gesellschaftliche Ordnung ohne Herrschaftsstrukturen verstanden, in der die einzelnen Menschen freiwillig Verpflichtungen eingehen können oder eben auch nicht. Etymologisch gesehen, kann das altgriechische Wort anarchía nämlich zunächst wertneutral als Zustand der Herrschaftslosigkeit verstanden werden. Der Begriff entwickelte sich aber natürlich weiter und es wurden verschiedene Begleiterscheinungen eines herrschaftslosen Zustandes prognostiziert, negative wie positive.
Anarchistische Prinzipien – so die These – kommen in modifizierter Form bereits jetzt in vielen Bereichen der Gesellschaft zur Anwendung.
Im Rahmen der Studie wird eine anarchistisch inspirierte Kritik an Herrschaftsstrukturen im Allgemeinen und am konkreten Beispiel des modernen Staates mitsamt seinem Rechtssystem entwickelt. Dies mündet in der Formulierung minimaler Prinzipien für eine herrschaftslos geordnete Gesellschaft. Zentrale Bedeutung, so der Vorschlag, soll dabei dem Konsensprinzip zukommen, gemäss dem alle Entscheidungen mit Aussenwirkungen grundsätzlich im Konsens von den beteiligten Menschen getroffen werden sollen. Des Weiteren geht es um die Frage, inwiefern anarchistische Prinzipien in die realen Gegebenheiten einer gesellschaftlichen Ordnung eingegliedert werden können. Diesbezüglich zeigt sich – so die These –, dass anarchistische Prinzipien in modifizierter Form bereits jetzt in vielen Bereichen der Gesellschaft zur Anwendung kommen. Konkrete Beispiele aus dem Rechtssystem, aber auch aus ökonomischen, sozialen und politischen Projekten untermauern diese These. So sind der in der Bundesverfassung garantierte föderale Staatsaufbau und die direkte Demokratie aus anarchistischer Perspektive grundsätzlich als begrüssenswerte politische Herrschaftsminimierung zu betrachten, auch wenn sie im Staat auftreten und bei genauerer Betrachtung Vorbehalte bezüglich ökonomischer Herrschaftsstrukturen angebracht sind. Ähnliches gilt für flache Unternehmenshierarchien und eine vermehrte Beteiligung aller Betroffenen an einer unternehmerischen Entscheidung, die eine Annäherung an das Konsensprinzip darstellen, obwohl sie herrschende Eigentumsverhältnisse nicht infrage stellen.
Grossprojekt in Spanien
Auch eine Gesellschaft als Ganzes kann anarchistisch organisiert sein, wie in der Doktorarbeit aufgezeigt wird: Vor gut 80 Jahren waren in Spanien in weiten Teilen Kataloniens, Aragoniens, Andalusiens und Kastiliens Millionen von Menschen am Aufbau einer nach anarchistischen Prinzipien organisierten Gesellschaft beteiligt. Politische, ökonomische und soziale Angelegenheiten wurden an basisdemokratischen Volksversammlungen geregelt. An diesen fand auch die Wahl von administrativen Komitees zur Erledigung der laufenden Geschäfte und von Delegierten für die föderale Zusammenarbeit statt. Diese hatten kein mandat blanc wie in heutigen parlamentarischen Demokratien üblich, sondern ein mandat impératif, sie waren also an die konkret erteilten Aufträge der Volksversammlung gebunden und konnten nicht frei im Rahmen von Verfassung und Gesetzen entscheiden. Das Land wurde kollektiv bewirtschaftet, das Geld teilweise abgeschafft und die Lebensmittel wurden direkt getauscht. In Barcelona kontrollierten die Arbeitenden praktisch den ganzen Industriesektor sowie den Service Public selbst. Programme gegen Analphabetismus und für die medizinische Grundversorgung wurden ins Leben gerufen. Das wohl grösste anarchistische Experiment der Geschichte fand mit dem Spanischen Bürgerkrieg und der Machtergreifung durch Franco 1939 jedoch sein abruptes Ende.
Das Beispiel Spanien zeigt deutlich auf, dass es sehr wohl anarchistische Ordnung geben kann. Der Anarchismus strebt Ordnung an und setzt diese auch voraus für ein friedliches Zusammenleben. Der einzige – aber markante – Unterschied gegenüber anderen politischen Formen ist, dass bestehende hierarchische durch herrschaftslose Ordnungen ersetzt werden.
Tagungsband in Vorbereitung
Im kommenden Frühjahr erscheint das von Rechtsprofessor Klaus Mathis und Luca Langensand gemeinsam herausgegebene Buch «Anarchie als herrschaftslose Ordnung?» in der Reihe «Recht und Philosophie» des Verlags Duncker & Humblot, Berlin. Es handelt sich dabei um die Publikation zur gleichnamigen interdisziplinären Tagung, die von den beiden an der Universität Luzern durchgeführt wurde.