Die gute Nachricht: Krebs bei Kindern ist meist heilbar. Die weniger gute: Nicht wenige leiden unter sozialen und psychischen Folgeerscheinungen. Die Forschungsgruppe unter der Leitung von Gisela Michel untersucht die Spätfolgen solcher Erkrankungen.
Gisela Michel, Sie führen ein reines Frauenteam – Zufall oder Absicht?
Gisela Michel: Auf keinen Fall Absicht! Es scheint aber, dass es in unserem Bereich der Gesundheit, in dem es um soziale und psychologische Aspekte geht, mehr Frauen gibt, die sich mit der Thematik befassen.
Worauf richten Sie und Ihr Team das Hauptaugenmerk?
Grundsätzlich geht es um die Verbesserung der Nachsorge nach Krebs im Kindesalter. Als ich früher beim Kinderkrebsregister gearbeitet habe, begann ich mich für die psychischen Hintergründe und psychosozialen Aspekte von einer Krebserkrankung im Kindesalter zu interessieren. Schliesslich arbeitete ich an der Universität Bern an der «Swiss Childhood Cancer Survivor Study» mit, später war ich in England an Studien beteiligt, die sich mit Krebs im Kindesalter und Fragen zur Nachsorge befassten.
Nun forschen Sie seit acht Jahren in Luzern – was steht im Zentrum?
Es geht darum, wie man ehemalige Kinderkrebspatientinnen und -patienten langfristig begleiten soll. Lange war das Augenmerk auf die rein medizinische Versorgung gerichtet. Wir möchten den sozialen und psychologischen Bereichen mehr Gewicht geben. So untersuchen wir zum Beispiel, welche Wünsche und Bedürfnisse die Organisationen, etwa die Kliniken, haben. Wir schauen, welche Art der Nachsorge von wem und wo am besten angeboten werden soll, ob und wie Hausärztinnen und -ärzte im Bereich der Kinderkrebsnachsorge weitergebildet werden können. Und wir finden heraus, welche Nachsorge Betroffene benötigen.
Welche Bedürfnisse haben ehemalige Krebspatientinnen und -patienten?
In den Kliniken geht es in erster Linie um medizinische und weniger um psychologische Unterstützung. Zudem haben wir festgestellt, dass viele sich die Onkologin, den Onkologen vor Ort wünschten, also sozusagen in der Hausarztpraxis. Das ist natürlich nicht umsetzbar, aber unterdessen gibt es an neun Zentren für Kinderonkologie in der Schweiz auch Nachsorge-Angebote.
Seit zwei Jahren arbeiten Sie beim EU-Projekt «PanCareFollowUp» mit, bei dem aufgrund der Forschungsergebnisse konkrete Massnahmen in vier Kliniken in vier verschiedenen Ländern umgesetzt werden. Was genau ist der Beitrag der Universität Luzern?
Gemeinsam mit einem internationalen Konsortium haben wir eine Studie in vier Sprachen aufgegleist, die online durchgeführt wird. Zurzeit sind wir daran, die Teilnehmenden zu rekrutieren. Dahinter steckt das Ziel, die Betroffenen zu stärken und ihnen mehr Eigenverantwortung zu übergeben. Es geht um sogenanntes Empowerment, ehemalige Krebspatientinnen und -patienten sollen mehr Verantwortung für ihre eigene Gesundheit übernehmen können. Nicht die Klinik sagt, was zu tun ist, was sie brauchen, vielmehr werden die Betroffenen umfassend über ihre Diagnose und mögliche Spätfolgen aufgeklärt. So können und sollen sie aktiv mitentscheiden, was für sie wichtig ist.
Ein Beispiel?
Eine Frau, bei der das Herz wegen der Krebserkrankung einen Risikofaktor darstellt und die wissen möchte, worauf sie achten muss, wenn sie schwanger werden möchte. Es geht darum, das nötige Wissen mitzugeben, damit die Betroffenen im komplexen Gesundheitssystem eigenständig zurechtkommen.
«Es zeigte sich, dass der Aspekt der psychologischen Nachsorge im klinischen Kontext eine weniger grosse Rolle spielt.»
Wie stark wird die Psyche belastet, wenn man im Kindesalter so schwer erkrankt?
In einer bereits abgeschlossenen Studie machten wir ein Screening, um herauszufinden, wie die psychologische Nachsorge implementiert werden kann. Es zeigte sich, dass dieser Aspekt im klinischen Kontext eine weniger grosse Rolle spielt. Die Onkologin, der Onkologe wird gefragt, welche medizinischen Spätfolgen die Krebserkrankung haben kann. Geht es darum, über psychische Folgen zu sprechen, ist sie bzw. er nicht die richtige Ansprechperson.
Sind psychische Probleme also weniger stark vorhanden, als Sie angenommen hatten?
Nein, wir haben in einer zweiten Untersuchung gesehen, dass das Thema wichtig ist. Ehemalige Kinderkrebspatientinnen und -patienten, sogenannte Survivors, sind auf uns zugekommen und haben gesagt, dass es ein grosses Bedürfnis gebe, sich damit stärker zu befassen. Die Fragen tauchen aber noch nicht in der Klinik, sondern erst später auf. In dieser Studie kam heraus, dass viele Survivors eine psychologische Unterstützung gebraucht hätten. Es ist aber schwierig, geeignete Fachleute zu finden, die auch genügend von der Thematik Kinderkrebs und den psychischen Folgen verstehen. Es fehlt generell an Ansprechpersonen, etwa auch bei Versicherungsfragen oder bei schulischen oder beruflichen Problemen.
Was für Spätfolgen kommen denn häufig vor?
In der bereits erwähnten «Swiss Childhood Cancer Survivor Study» haben wir festgestellt, dass 25 Prozent der ehemaligen an Krebs erkrankten Kinder später unter psychischen Problemen leiden, die eigentlich behandelt werden müssten. Dabei geht es um Depressionen, soziale Verunsicherung, Angstzustände oder chronische Müdigkeit. Auf der anderen Seite ist es erfreulich, dass es 75 Prozent gut geht. In der allgemeinen Bevölkerung sind es übrigens rund 15 Prozent, welche psychische Probleme haben.
Interessant ist, dass Ihre Forschung stets nahe an der Praxis ist, dass Betroffene und Institutionen möglichst rasch und ohne Umwege davon profitieren können.
Das stimmt, wir arbeiten von Anfang an jeweils mit Kinderonkologinnen, Patienten und Survivors zusammen, und die Resultate fliessen bei der Umsetzung von Massnahmen mit ein. So sind wir zum Beispiel Teil der International Guideline Harmonisation Group, welche klinische Richtlinien für die Nachsorge erarbeitet. Wir befassen uns mit psychosozialen Spätfolgen; in einer Richtlinie geht es um chronische Müdigkeit. Da haben wir eine Art Massnahmenplan für Kliniken erarbeitet, damit die chronische Müdigkeit in der Nachsorge nicht vergessen geht und behandelt werden kann. Diese Richtlinien werden in Zusammenarbeit mit Ärzten, Psychologen, Betroffenen und Forschenden erarbeitet, darum sind unsere Ergebnisse sehr praxisnah. Wir geben damit Wegleitungen, die für die klinische Praxis von Nutzen sind.
Nicht nur ehemalige Patientinnen und Patienten, sondern auch deren Familien sind Gegenstand der Forschung. Warum?
Ich war vor ungefähr zehn Jahren in einem Flugzeug unterwegs zu einem Kongress, als mein Sitznachbar sagte, wir sollten unbedingt auch die Eltern von krebserkrankten Kindern anschauen. Das war ein Schlüsselerlebnis, das mich nicht mehr losliess, und ich merkte, dass es da viel Neuland zu entdecken gibt. Eltern machen sich nicht nur während der Krankheit, sondern auch danach viele Sorgen und sind starken Belastungen ausgesetzt. Wir haben eine Elternstudie durchgeführt, bei der wir alle Eltern befragt haben, deren Kinder im Kinderkrebsregister registriert sind.
Was kam dabei heraus?
Interessant ist, dass die Rollenteilung in betroffenen Familien durch die Krankheit eher wieder ins Traditionelle kippte. Dies, weil häufig die Mütter ihre Arbeit aufgeben, um das erkrankte Kind zu pflegen. Oft blieb diese Situation längerfristig bestehen. Zudem war das Armutsrisiko höher, einerseits, weil durch die Krankheit Zusatzkosten, welche nicht abgedeckt sind, entstanden sind. Andererseits aber auch, weil eine Werteverschiebung stattgefunden hat, mit der Folge, dass Geld und Besitz weniger Stellenwert haben.
Viele Eltern empfanden sich während der Erkrankung ihres Kindes als Team, das zusammenhalten musste.
Wie stark sind Eltern psychisch belastet?
Bei den befragten Familien liegt die Erkrankung des Kindes schon viele Jahre zurück. Wir stellten fest, dass es wenig Fälle von posttraumatischem Stress gibt, etwa ähnlich wie in der Allgemeinbevölkerung. Das erstaunt. Ebenso erstaunlich ist, dass das psychische Befinden generell besser ist und auch Scheidungen nicht häufiger sind. Das hat wohl damit zu tun, dass solche Erlebnisse auch Kräfte freisetzen und Paare und Beziehungen zusammenschweissen und stärken können. Viele Eltern empfanden sich während der Erkrankung ihres Kindes als Team, das zusammenhalten musste.
Auch auf die Grosseltern haben Sie einen Fokus gesetzt, weil auch sie meist stark involviert sind, wenn ihr Enkelkind an Krebs erkrankt. Welchen Belastungen sind sie ausgesetzt?
Wir arbeiten derzeit an einem Projekt dazu mit mehreren Unterstudien und sind daran, Daten zu erheben. Grosseltern übernehmen häufig zentrale Aufgaben in der Betreuung; kommt eine solche Erkrankung hinzu, weitet sich das Gebiet aus. Sie werden zu wichtigen Ansprechpersonen für die Eltern und bieten emotionale Unterstützung. Aber auch für die Geschwister des erkrankten Kindes spielen sie oft eine wichtige Rolle. Deshalb hat die Belastung für Grosseltern mehrere Ebenen – sie sorgen sich um ihr Enkelkind und dessen Geschwister, aber auch um das Wohlergehen des eigenen Kindes, der Mutter oder des Vaters des erkrankten Kindes. Mit der Studie möchten wir herausfinden, welche Unterstützung sie benötigen.
unilu.ch/gisela-michel | früheres Porträt im Uni-Magazin
Website-Bereich «Childhood Cancer Research»
Forschungsmitarbeiterinnen an Professorin Michels Lehrstuhl: Dr. Katharina Roser, Dr. Manya Hendriks, Dr. Daniela Dyntar, Dr. Julia Bänziger, Dr. Erika Harju, Cristina Priboi, Anica Ilic, Eddy Carolina Pedraza Salcedo und Salome Christen.
Jugendliche und junge Erwachsene im Fokus
Das Team um Professorin Gisela Michel untersucht nebst der Kinderkrebsforschung (siehe Interview) auch die Auswirkungen einer Krebserkrankung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Forschungsmitarbeiterin Dr. Katharina Roser wird innerhalb eines Projekts eine Übersicht über die Situation in der Schweiz erstellen. Zielgruppe sind Menschen, die im Alter zwischen 15 und 39 Jahren an Krebs erkrankt sind. «Zu dieser Altersgruppe wird zwar immer mehr geforscht, es existieren aber immer noch deutlich weniger Studien als über Krebs im Kindesalter», sagt Katharina Roser. Aus der Schweiz gibt es noch keine detaillierten Zahlen. Deshalb werden in einer Fragebogenstudie ehemalige Krebspatientinnen und -patienten aus der ganzen Schweiz befragt, dabei geht es auch um psychosoziale Themen. «Was wir bereits angeschaut haben, sind die Zahlen aus der Zentralschweiz, wo wir die Daten von rund 500 Fällen aus den letzten vier Jahren untersuchten.»
Bei 15- bis und 39-Jährigen treten Krebserkrankungen häufiger auf als bei Kindern. Die Diagnose trifft die Betroffenen in einer heiklen Lebensphase. «In dieser Zeit schliesst man die Ausbildung ab, tritt ins Berufsleben ein oder plant eine Familie. Viele Veränderungen passieren in dieser Phase des Lebens. Uns interessiert darum, was es heisst, wenn dann die Diagnose Krebs gestellt wird», so Roser. Zum Glück ist Krebs heute bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu 80 Prozent heilbar. Das heisse aber auch, dass den Betroffenen eine lange Lebenszeit bevorstehe, meint Katharina Roser. «Je nachdem verpasst man wegen der Krankheit Ausbildungschancen oder sie wirkt sich negativ auf die Partnersuche aus. Möglich auch, dass man durch die Krankheit keine Kinder haben kann und der ganze Lebensentwurf über den Haufen geworfen wird. Da möchten wir genau hinschauen und herausfinden, wo die Probleme und Schwierigkeiten liegen.» (rb.)