Tiere – nicht mehr länger nur Objekte, sondern eigenständige Akteure: Darauf zielt der neuere kulturwissenschaftliche Blick ab. Damit verbunden: die Erkenntnis der untrennbaren Verflechtung von Mensch und Tier.
«Bella ist eine ganz Liebe. Wenn ich von der Arbeit heimkomme, steht sie bereits mit der Leine im Mund bereit. Heute ist ihr Geburtstag, ich habe ihr einen schönen Knochen gekauft.» Marianne Sommer, wie beurteilen Sie diese Aussage als Kulturwissenschaftlerin, was gelangt darin zum Ausdruck?
Marianne Sommer: Haustier-Halterinnen und -Halter neigen wohl dazu, ihren tierlichen Gefährten Subjektivität zuzugestehen. Gleichzeitig führen Hunde kaum selbstbestimmte Leben. Menschen «halten» Hunde. Diese Art des Umgangs würde in Bezug auf einen anderen Menschen strafrechtlich geahndet. Das Feiern eines Geburtstags macht vermutlich eher den Menschen glücklich als das Tier, auch wenn sich Bella sicher über den Knochen freut. Persönlich finde ich die obige Aussage eher unproblematisch in Anbetracht des Ausmasses, das die Anthropomorphisierung, also Vermenschlichung, von Haustieren mitunter annimmt. Die Hundehalterin in Ihrem Beispiel brät wenigstens kein Filet Mignon oder backt dem Hund einen Kuchen. Sie schenkt ihm kein Haute-Couture-Kleidchen, eine ausgefallene Frisur oder einen Aufenthalt im Wellnesshotel für Hunde. Die Haustierindustrie ist natürlich ein Thema für sich – und ein Milliardengeschäft.
Solche und verwandte Fragestellungen und Themen werden im Rahmen der «Animal Studies» bzw. der «Animal-Human Studies» erforscht, be- und verhandelt. Was macht diese aus, was sind ihre Grundannahmen, unter welchen Voraussetzungen ist dieser relativ neue Forschungszweig «aufgetaucht»?
In den 1980er-Jahren entstanden im englischsprachigen Raum diese sogenannten Animal Studies oder Human-Animal Studies. Als begründender Text wird gern John Bergers «Why Look at Animals?» von 1980 herangezogen. Die Beschäftigung mit Tieren ist in den Geistes- und Sozialwissenschaften nicht neu – man denke etwa an die Wissenschaftsgeschichte –, aber neu ist die Frage nach der Akteurschaft der Tiere. Der Fokus liegt dabei auf der Art und Weise, wie Tiere unsere Geschichte und Gegenwart beeinflussen. Welche Wirkmacht haben sie? Sehr augenfällig ist etwa die wichtige Rolle von Tieren in den beiden Weltkriegen oder im Kolonialismus. Zentrale Fragestellungen zielen auf die Geschichte der Grenzziehung zwischen «Mensch» und «Tier» und den Wandel und die kulturelle Vielfalt in den Tier-Mensch-Beziehungen. Im deutschen Sprachraum sind die Human-Animal Studies jünger. 2012 erschien hier mit «Tierstudien» die erste Zeitschrift. Aber auch in der deutschsprachigen Geschichte, Soziologie, Philosophie, Ethnologie, Politikwissenschaft, Religionswissenschaft, Literaturwissenschaft etc. hat das Tier als Teil der menschlichen Gesellschaft und Geschichte, als ästhetischer Gegenstand und als von konstitutiver Bedeutung für unser Selbst- und Weltverständnis an Aufmerksamkeit gewonnen.
Neben «Haustieren» – wie im Beispiel zu Beginn – bestehen «Wildtier» und «Nutztier» als weitere Kategorisierungen. Was macht die Idee vom «Nutztier» aus? Was lässt sich zum Phänomen sagen, dass menschliche Handlungen bei «Nutztieren» – etwa das Mästen, Töten und Verzehren – legitim scheinen, derweil dieselben Praxen bei «Haustieren» strafrechtlich relevant wären?
Mit solchen Paradoxen scheint der Mensch leben zu können. Wir haben eine gewisse Widersprüchlichkeit in der Haltung und im Verhalten bereits im Zitat der Hundehalterin zu Beginn festgestellt. Wir verdrängen und verstecken gut. So wurde etwa das Schlachten von Tieren bei uns im Verlaufe der Geschichte aus dem Alltag an die Stadtränder verdrängt, quasi unsichtbar gemacht. Das Fleisch kommt sauber und schön verpackt aus dem Supermarkt. Darüber hinaus durchziehen Hierarchien die Mensch-Tier-Beziehungen. Wir tendieren dazu, Tiere, die uns ähnlicher sind, die Dinge können, die uns auszeichnen, als schützenswerter zu erachten. Menschenaffen können über symbolische Systeme mit uns kommunizieren, sie entwickeln eigene «Kulturen» und sind uns genetisch am nächsten. Das sind Argumente, die im «Great Ape Project» eingesetzt werden, um die Ausweitung gewisser Menschenrechte auf Menschenaffen zu erreichen. Aber Intelligenz wird generell als ein Kriterium für Wertigkeit herangezogen. Für uns gibt es das Tier also nur in genereller Abgrenzung zu dem Menschen – in der grundlegenden Dichotomie von Mensch und Tier. In Wahrheit hierarchisieren wir aber innerhalb beider Kategorien stark.
Forschende in den Human-Animal Studies sind nicht zwingend auch politisch aktiv oder führen einen vegetarischen oder veganen Lebensstil.
Vermeintlich Naturgegebenes als kulturelle Konstruktion … Wird man als «Animal-Human Studies»-Forschende/r automatisch zur Tierleid-Vermeiderin, zum Veganer? Respektive: Wie viel «Engagement» steckt in diesem Wissenschaftszweig, wie viel Wille (oder Verlockung) neben der «reinen» Erforschung auch zur Aufdeckung und Sprengung vorherrschender und als Missstand empfundener Denkmuster, zur «Auf-Klärung»?
Diese Frage hat Sprengkraft und hat zu einer gewissen Ausdifferenzierung geführt. Forschende in den Human-Animal Studies sind nicht zwingend auch politisch aktiv oder führen einen vegetarischen oder veganen Lebensstil. Politischer Aktivismus zeichnet die Critical Animal Studies aus. Die Human-Animal Studies haben Vorderhand ein genuin erkenntnistheoretisches Interesse am Tier: Was lernen wir mehr über unsere Vergangenheit und Gegenwart, wenn wir die Tiere miteinbeziehen in die Forschung? Eine Betrachtung der Mensch- Tier-Beziehungen vermittelt einen neuen Blick auf die Menschen. Gleichzeitig denke ich, dass ein gewisser aufklärerischer Anspruch stets besteht. Aber gilt das nicht für alles Forschen?
Sie haben sich in diesem Herbstsemester mit den Studierenden damit befasst, «wie die Tiere zu einer Stimme kamen». Was ist damit gemeint?
Im Seminar näherten wir uns den Animal Studies über den vielfältigen Aspekt der Stimme, im wörtlichen wie übertragenen Sinn. Wir betrachteten filmische Inszenierungen und wissenschaftliche Untersuchungen tierlicher Laute und die gesellschaftliche Forderung nach einer politischen Stimme für Tiere. Dies äusserte sich bereits im Rahmen der Tierrechtsbewegungen des 19. Jahrhunderts in Propaganda- Cartoons, in denen Tiere mit Sprechblasen versehen wurden, um auf ihr Leid aufmerksam zu machen.
Dieses Interesse an tierlichen «Stimmen» führte auch in die Mediengeschichte. Mit dem Aufkommen des Phonographen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurden erstmals Tierlaute aufgezeichnet, für Wissenschaft, Tierschutz und Unterhaltung. Die Frage, ob gewisse Tiere eine eigene Sprache haben, wird schon sehr lange gestellt, und mit dieser Technik versuchte man auf neue Art und Weise, sie zu beantworten. Manche frühen «Tierdokumentarfilme » – darunter sicher Disneys «True-Life Adventures» – sagen kaum etwas über die Tiere aus, sondern sind Trickfilmen nachempfunden. Dasselbe gilt für frühe Filme von Tieren, die in Zoos realisiert wurden. In diesen kam zumeist menschliches Voiceover zum Einsatz, um Komik zu erzeugen. Aber selbst diese Art von Filmen stand im Zusammenhang mit Tier- und Naturschutzbewegungen. Auch sie wurden also als eine Möglichkeit gesehen, den Tieren eine Stimme zu geben.
Durch unser ganzes Seminar zog sich die Frage nach der Rolle von Anthropomorphismus. Natürlich können wir Tiere nur mit unseren Sinnesapparaten wahrnehmen und in unseren Zeichensystemen erfassen und beschreiben. Aber ab wann geht die Vermenschlichung zu weit? Wann werden die Tiere vollends kulturell überschrieben? Oder wann ist Anthropomorphismus eine gute Strategie, um in der Rolle von Fürsprecherinnen und -sprechern auf die Anliegen von Tieren aufmerksam zu machen? Eng verbunden mit solchen Fragen und jener nach einer Akteurschaft von Tieren ist neben der Medientechnik- auch die Emotionsgeschichte.
Hintergrund des Seminars war eines Ihrer eigenen Forschungsprojekte, aus dem unter anderem der Band «Zwitschern, Bellen, Röhren. Tierlaute in der Wissens-, Medientechnik- und Musikgeschichte» hervorging.
In diesem Rahmen habe ich zum Beispiel die Rolle von Tieren im Londoner Zoo während des Zweiten Weltkriegs angeschaut. An diesem historischen Schauplatz kam all das oben Genannte zusammen. Man machte trickfilmartige Filme, nahm Tierstimmen auf und liess diese in Experimenten den Tieren wieder vorspielen, um ihre Funktion zu ergründen. Man plante ein Kino im Zoo, wo auch Disney-Filme gezeigt werden sollten. Der Biologe und Zoodirektor Julian Huxley war als Tier- und Naturschützer aktiv, fertigte selber Dokumentarfilme an und nahm gern Zootiere mit zu seinen aufklärerischen Vorträgen. Die tierlichen Stimmen wurden schliesslich auch dem Lärm der Moderne und des Krieges entgegengehalten. In den Zoofilmen und durch Huxleys Erforschung der Frage, wie Tiere auf den Lärm der Bombardierungen reagieren, wurden die Zootiere Akteure in der Verbreitung der Moral «Britain Can Take It».
Ebenfalls in diesem Herbst durfte der integrierte Studiengang «Kulturwissenschaften» sein 20-jähriges Bestehen feiern (siehe Newsmeldung). Was ist mit «integriert» gemeint? Und ist darin vielleicht zugleich die Antwort dafür zu sehen, weshalb sich die Kulturwissenschaften so gut (auch) zur Erforschung von Tier-Mensch-Beziehungen eignen?
Ja, der Studiengang Kulturwissenschaften ist einzigartig. Die Studierenden wählen eines der Fächer der Fakultät als Hauptfach. Statt Nebenfächern studieren sie aber integriert: Sie setzen sich selbst inhaltliche oder theoretischmethodische Schwerpunkte und studieren über die Fächergrenzen hinweg. Zusätzlich fungieren die Lehrangebote in den Kulturwissenschaften als Brücke zwischen den Fächern. Gerade die neueren Forschungsfelder in den sogenannten Studies stehen für diese Form der Transdisziplinarität. Tier-Mensch-Beziehungen sind allgegenwärtig und tangieren sämtliche gesellschaftlichen Bereiche. Sie sind so alt wie die Menschheit und so vielfältig wie die menschlichen Kulturen. Die Human-Animal Studies sind daher dezidiert interdisziplinär: Sie nehmen sämtliche Zeiten und Bereiche in den Blick, in denen Tiere eine Rolle spielen.
Unser kulturwissenschaftlicher Blick war bis vor Kurzem noch vor der bewussten Wahrnehmung des menschlichen Einflusses auf unseren Planeten verstellt. Dazu zähle ich auch meinen Blick.
Boris Previšić, auch Sie befassen sich unter anderem mit Flora und Fauna; einen Ihrer je länger, je mehr in Erscheinung getretenen Schwerpunkte stellt der kulturwissenschaftliche Blick auf das Anthropozän dar.
Boris Previšić: Unser kulturwissenschaftlicher Blick war bis vor Kurzem noch vor der bewussten Wahrnehmung des menschlichen Einflusses auf unseren Planeten verstellt. Dazu zähle ich auch meinen Blick, bis mich das erste Mal das Scheitern der Klimakonferenz in Kopenhagen 2009 und dann endgültig das Pariser Klimaabkommen 2015 wachgerüttelt haben. Ich möchte damit nicht sagen, dass in der Kulturwissenschaft Ungleichheit und Intersektionalität, Diversität und Postkolonialismus, Kunstformen und Populärkulturen nicht mehr von Bedeutung sind. Im Gegenteil: Sie werden durch das Anthropozän eigentlich nochmals verschärft, seit die Erdgeschichte die Humangeschichte überrollt, seit sich der Klimawandel schneller als der Kulturwandel vollzieht und wir die grösste Biodiversitäts-Krise nicht nur seit Menschengedenken, sondern in der Evolutionsgeschichte überhaupt angestossen haben.
Und wie ist die Tierwelt hier zu verorten?
Beginnen wir bei den Säugetieren, die uns am nächsten sind und am ehesten auch – unabhängig davon, wie man dazu steht – anthropomorphisiert werden können. Folgen wir der Studie von Yinon M. Bar-On und weiteren Forschenden von 2018, sind weltweit 60 Prozent der gesamten Biomasse aller Säugetiere Nutztiere. Der Mensch macht zusätzliche 36 Prozent aus, während wilde Säugetiere nur noch gerade 4 Prozent darstellen. Zu Recht spricht der Philosoph Peter Sloterdijk in seiner jüngsten Publikation «Die Reue des Prometheus » bei der industriellen Massentierhaltung vom grössten Gulag des 21. Jahrhunderts. Die Befreiungsgeschichte des Menschen ist bisher nicht nur fossilgetrieben, sondern auch eine veritable Unterdrückungsgeschichte der Säugetiere und Vögel. Als Menschheit sind wir noch nie so rabiat mit der Tierwelt umgegangen wie heute.
Auch hier – siehe die bereits Professorin Sommer gestellte Frage – schreit alles nach «Aktion». Und dies zeigt sich ja auch in den Titeln ihrer jüngsten Publikationen: «Zeitkollaps » und «CO2 – Fünf nach Zwölf». Wissenschaft als «Handeln», als «Engagement»?
Natürlich ist hier nicht mehr nur Analyse gefragt, sondern gerade aus Sicht der Kulturwissenschaft konsequentes Handeln angesagt. Nur mit einem immensen Verdrängungsapparat können wir die gegenwärtigen «Kulturleistungen» im Weiter-wie-Bisher, abgekoppelt von unseren Lebensgrundlagen, von Atmosphäre und Biosphäre, mehr schlecht als recht aufrechterhalten. Darum ist die massive Reduktion unseres Fleischkonsums keine Frage individueller Einstellung, sondern von grösster gesamtkultureller und gesamtgesellschaftlicher Relevanz. In der Aufklärung ging man noch von unbegrenzten Ressourcen auch in Bezug auf die Tierwelt aus. Heute sind wir darauf angewiesen, die Begrenztheit unserer Lebensgrundlage genau zu kennen. Wir müssen also nicht nur Befreiungsdiskurse führen, sondern die Zahlen der planetaren Grenzen im Verhältnis zu unserem Lebensstandard genau kennen. Und dazu gehört auch die Tatsache, dass wir noch nie in der Menschheitsgeschichte so sehr in die Tierwelt verstrickt waren wie heute. Wir haben die planetaren Grenzen bei weitem überschritten, und Tiere sterben aus – wie noch nie in der Erdgeschichte.
Grundsätzlich ist jeder Tierversuch genehmigungspflichtig, und die Forscherinnen und Forscher müssen detailliert darlegen, wie sie ihr Forschungsziel mit welcher Anzahl von Versuchstieren erreichen wollen.
Christoph Hoffmann, auch bei Ihnen als Wissenschaftsforscher kommt der «Tier»-Aspekt immer wieder zum Tragen, im vergangenen Herbstsemester auch in der Lehre, und zwar standen Experimente im Fokus. Häufig ist diesbezüglich euphemistisch von «Tierversuchen » die Rede …
Christoph Hoffmann: Bei Tierversuchen wird zumeist an Mäuse und Ratten in kleinen Käfigen gedacht, an Wirkstofftests und Verträglichkeitsprüfungen, oder an neurophysiologische Experimente mit Primaten. Diese Art von Tierversuchen ist heute sehr hoch reguliert und insgesamt auf dem Rückzug. Grundsätzlich ist jeder Tierversuch genehmigungspflichtig, und die Forscherinnen und Forscher müssen detailliert darlegen, wie sie ihr Forschungsziel mit welcher Anzahl von Versuchstieren – Stichwort «statistical power» – erreichen wollen. Aber ja, am Ende sind viele dieser Tiere tot, sie werden verbraucht, geopfert, «sacrifized » in der Sprache des Labors, sterben vorzeitig und können auf jeden Fall, sollten sie überleben, selbst wenn es Wildfänge waren (was kaum der Fall ist), aus Vorsichtsgründen nicht freigelassen werden – und sie würden da draussen auch kaum überleben.
Nun hiess der Titel Ihres Seminars ja bewusst «Tiere im Experiment».
Ja, genau, denn die Spannbreite dessen, was unter Tierversuchen zu verstehen ist, ist viel breiter. Experimente mit Tieren spielen in den Kognitionswissenschaften eine wichtige Rolle, wir kennen die sprachbegabten oder nicht sprachbegabten Primaten und die klugen Krähen, die Werkzeuge benutzen. Auch Teile der Verhaltensbiologie arbeiten mit Experimenten – und dies teilweise direkt im Feld, zum Beispiel mit Interventionen in den gewöhnlichen Lebensraum. Ich denke an ein Experiment, in dem untersucht wurde, wie zusätzlich ins Terrain eingebrachte Behausungen das Verhalten ortsansässiger Gruppen von Fischen gegenüber ortsfremden Fischen derselben Art veränderte. Solche Tierversuche sind, man könnte sagen, minimalinvasiv. Die Veränderungen werden nach dem Experiment rückgängig gemacht, die Fische müssen für die Aufzeichnung ihrer Bewegungen durch ein Videosystem nicht markiert werden.
Wann und unter welchen Annahmen ist es überhaupt dazu gekommen, dass mit Tieren – im Grunde ja keineswegs eine Selbstverständlichkeit – experimentiert wurde? Was hat sich im Laufe der Zeit verändert?
Eng gefasst wird man von Tierexperimenten erst seit dem 19. Jahrhundert sprechen können – umstritten waren sie schon zu dieser Zeit. An der Diskussionslage hat sich seither wenig geändert, hingegen sehr viel, ich habe es schon erwähnt, an der Regelungsdichte. Wie weit Tierexperimente ethisch zu rechtfertigen sind, überlasse ich den zuständigen Gremien. In meinen Augen gibt es hier allerdings keine schlagenden Kriterien, etwa die regelmässig angeführte Schmerzempfindlichkeit. Mit Verweis auf solche Aspekte wird auf eine mehr als merkwürdige Weise die Gesamtheit der Tiere in solche unterteilt, die unsere Zuwendung und unseren Schutz erhalten, und in solche, die dessen nicht «würdig» sind.
Was steht denn im Fokus Ihrer eigenen Forschung?
Versuche mit Tieren sind notwendige Versuche, die sich Menschen ausgedacht haben unter Voraussetzung menschlicher Begriffe und angeleitet von menschlichen Erkenntnisinteressen. Anders gesagt: Tierversuche können gar nicht anders als anthropomorph sein. Die entscheidende Frage ist, ob die Forscherinnen und Forscher diesen Umstand hinreichend bedenken und durchschauen können oder in einem Anthropozentrismus hängen bleiben. Dazu kommt, dass Lebewesen untereinander variieren, dass sie Individualität besitzen (und zwar selbst dann, wenn es sich um genetisch homogene Zuchten handelt). Ein Spinnenforscher hat uns einmal in aller Selbstverständlichkeit berichtet, dass, wenn er morgens in sein Labor kommt, sofort sieht, mit welchen Tieren er an dem Tag arbeiten kann und welche keine Lust haben.
Ich schaue mir an, manchmal direkt, manchmal in der Literatur, wie Forscherinnen und Forscher diese Umstände in ihren Untersuchungen berücksichtigen, wie sie es zum Beispiel schaffen, dass Tiere in ihren Versuchen mittun, und welche Mittel sie finden, sich der Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt von Tieren anzunähern. Das geht oft, unfreiwillig, mit einem Nachdenken darüber einher, was denn an einem Weltzugang oder Weltverständnis speziell menschlich ist. Was mich am meisten fasziniert: Dass wir, wir Menschen, sieht man einmal von dem kleinen Ausschnitt der Haus- und Heimtiere ab, für fast alle Tiere nichts sind, nur ein Stück Hintergrund, eine Störung höchstens, jedenfalls nichts, das der Mühe der näheren Betrachtung lohnt.