Innen und Aussen im Einklang. Dies braucht es, um ein authentisches und entspanntes Leben zu führen: Zu diesem Schluss kommt administrative:r Assistent:in Tim Wettstein. They ist nicht-binär, also weder «Mann» noch «Frau», und sieht sich einfach als «Mensch».

Die Nonbinary-Pride-Flagge: gelb: Personen ausserhalb der Binarität, weiss = vielgeschlechtlich, lila = zwischengeschlechtlich, schwarz = ungeschlechtlich. (Bild: ©istock.com/nito100)

Ich – Selbst – Identität: Klarer könnten Leitgedanken wohl kaum auf eine grosse Persönlichkeit verweisen. Die Rede ist von C. G. Jung (1875–1961). Ich habe im Folgenden weder eine wissenschaftliche Erörterung über ihn noch eine Gedenkschrift auf ihn im Sinn. Das Einzige, womit ich dem einflussreichen Schweizer Psychiater und Psychotherapeuten den ihm gebührenden Platz einräumen kann, ist, indem ich seine Erkenntnisse durch meine realen Erfahrungen sprechen lasse. Indem ich seinen Beitrag für den meinigen nutzen darf. Und gerade weil es eine persönliche Betrachtung ist, erhebe ich keinen Anspruch auf generelle Gültigkeit.

Wir alle haben unser eigenes Ich. Unser bewusstes, nach aussen sichtbares Ich. Ein Ich, das sich in seiner Umwelt bewegt. Ein Ich, das mit seiner Umgebung kommuniziert. Ein Ich, das sein Aussen formt – und vom Aussen geformt wird. Wir alle können uns beschreiben: «Ich bin …» Nur: Wer bin ich selbst? Bin ich mich selbst? Hier wird es deutlich schwieriger: Denn unser Selbst – Jung versteht darunter die Einheit und Ganzheit der Gesamtpersönlichkeit mit allen bewussten und unbewussten Anteilen – bewegt sich weder einfach in seiner Umwelt noch können wir direkt damit kommunizieren, und wir formen es auch nicht. Es formt uns – oder würde das zumindest gerne. Aber wer sind wir denn nun? Unser Ich? Unser Selbst? Beides? Und was hat das mit Identität zu tun?

Ich kann – wie gesagt – nur von mir sprechen. Lange, lange Zeit habe ich gedacht, ich wüsste, wer ich sei. Ich habe gedacht, ich sei mich selbst. Aber schon durch die verwendeten Worte wird deutlich, dass ich einem grundsätzlichen Irrtum aufgesessen war. Zu glauben, zu denken wissen, wer man sei, ist in etwa, wie wenn man glauben würde, zu denken wissen, dass die Erde eine Scheibe sei. Wenn man bloss an den Horizont schaut, ist dies eigentlich nicht erstaunlich. Und wenn man bloss anhand der eigenen Umwelt zu erkennen glaubt, zu wissen, wer man sei, ist es ebenfalls nicht erstaunlich, dass man einem ähnlichen Trugschluss verfällt. Wer «Ich» bin, kann ich mit meinen Augen erkennen. Aber nicht, wer ich selbst bin. Wer «Ich» bin, kann ich mir im Geiste ausdenken. Aber nicht, wer ich selbst bin. Das Selbst benötigt nicht den Blick nach aussen, sondern nach innen. Das Mittel des Selbst ist nicht das Denken, sondern das Erfahren. Deshalb ist das, was ich mit meinen Augen im Aussen zu erkennen glaube – und das ist bis zur Erfahrung des Selbst das Wahrscheinlichere –, eher das, wozu wir unser «Ich» seit Anbeginn haben formen lassen. Wir alle haben das Bedürfnis, zum grossen Ganzen dazuzugehören. Wir möchten verbunden sein, indem wir eine gemeinsame Identität teilen. Doch wenn wir unachtsam sind oder nie achtsam zu sein gelernt haben, droht das Selbst dadurch in die Bedeutungslosigkeit abzurutschen. Dann tritt das «Ich» an seine Stelle.

Meine Identität ist viel mehr als mein Geschlecht, dieses ist bloss ein Teil von mir.

Nur, und hier muss ich C. G. Jung aus vollen Stücken zustimmen: Das Selbst wird dies nicht ewig zulassen. Es wird Mittel und Wege suchen, dem «Ich» die eigene Identität erfahrbar zu machen. Es wird sich bemühen, das «Ich» näher zu sich selbst zurückzubringen. Und so hat es mich zurückgeführt zu meinem wahren Ich, meinem wahren Selbst. Es hat mich nicht hingeführt, sondern zurückgeführt. Zu einem Selbst, das noch nie in die bestehenden binären Geschlechterbilder gepasst hat. Welches nicht-binär ist. Zu einem Selbst, das sich aber arrangiert und eingefügt hatte, um eine vermeintliche Verbindung sicherzustellen. Ohne zu wissen, dass eine wahre Verbindung im Aussen nicht möglich ist, wenn keine solche im Innen besteht. Und dass eine solche im Aussen auch dann nicht möglich ist, wenn das Innen nicht nach aussen dringen darf. Ich durfte erfahren, dass ein Ich ohne Selbst nicht überlebensfähig ist – und umgekehrt. Ich durfte aber auch erfahren, dass ich aus vielen Teilen bestehe. Meine Identität ist viel mehr als mein Geschlecht, dieses ist bloss ein Teil von mir.

Ich bin unglaublich dankbar. Die mich umgebenden Menschen an der Universität haben diesen Teil meiner Identität offen, verständnis-, vertrauens- und respektvoll auf- und angenommen. Das ist alles andere als selbstverständlich und hat mir doch eines bestätigt: Unsere persönliche Identität, die ich nicht mit veränderbaren Persönlichkeitseigenschaften verwechseln möchte, ist, wie sie ist – und nicht, wie sie für das bestehende, grosse Ganze idealerweise wäre. Unsere gemeinsame Kultur hingegen entsteht erst als Produkt unserer individuellen Identitäten. Unsere Kultur ist daher weder starr noch allumfassend. Wir verändern sie laufend, wir können sie verändern. Auf Basis von gegenseitiger Offenheit, Verständnis, Vertrauen und Respekt. Wir alle haben mit unserer Individualität Platz. Indem wir uns diesen Platz alle gegenseitig schenken.

Foto Jeannine Wettstein

Tim Wettstein

Tim Wettstein (†2023) arbeitete zum Zeitpunkt der Publikation dieses Beitrags als administrative:r Assistent:in im Dekanat der Theologischen Fakultät. Tim Wettstein verwendete statt der binären Pronomen «sie» oder «er» das genderneutrale Pronomen «they» (für Nominativ und Akkusativ, siehe Lead dieses Artikels; für Dativ und Genitiv: «them») und wies gleichzeitig darauf hin, dass es keine «offizielle» und einheitliche Praxis gebe. Als Alternative können die Pronomen vollständig weggelassen und mit dem Namen ersetzt werden. Es existieren im Deutschen verschiedene weitere Neo-Pronomen, die nicht-binäre Menschen für sich nutzen.

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