Wenn man sich auf etwas einlässt, ist alles spannend, findet Rechtsprofessorin Karin Müller. Daher wäre aus ihr beinahe eine Philosophin oder Molekularbiologin geworden.
«Möchten Sie nicht so sitzen, dass Sie die wunderbare Aussicht auf den See geniessen können?» Karin Müller bringt ihrem Interviewpartner Kaffee, Wasser und achtet auch sonst darauf, dass alles stimmt – bis hin zur Blickrichtung ihres Gastes. Vor ihr liegen die Notizen zu den Fragen, die sie auf ihren Wunsch hin zur Vorbereitung des Gesprächs erhalten hat. Nichts wird dem Zufall überlassen. «Ich verliere selten den Überblick. Und wenn, dann versuche ich, kühlen Kopf zu bewahren.» Das gilt bei der Luzernerin in fast allen Lebenslagen – während Vorlesungen, beim Forschen und auch, wenn sie zusammen mit ihrem Mann kocht. Von Letzterem später mehr.
Rüstzeug mitgeben
Karin Müller ist Professorin für Privatrecht, Handels- und Wirtschaftsrecht sowie Zivilverfahrensrecht. Ihr wichtigstes Ziel: «Ich versuche, den Studierenden das nötige Rüstzeug mitzugeben.» Und fügt an: «Schliesslich müssen sie dereinst zu Urteilen beitragen, die menschliche Schicksale mehr oder minder stark beeinflussen können.»
Die Praxis braucht gut ausgebildete Juristinnen und Juristen.
Die Zentralschweiz mit ihren vielen kleinen und mittleren Unternehmen brauche gut ausgebildete Juristinnen und Juristen. Müller behandelt mit ihren Schützlingen die wichtigsten Fragen und Probleme dieser Unternehmen. «Es gibt AGs, GmbHs, Kollektivgesellschaften und Genossenschaften. Es ist wichtig, dass man sich da auskennt.» Welches sind die Unterschiede zwischen den Gesellschaftsformen, wie werden welche Formen besteuert, wie sind die Nachfolgeregelungen? «Das sind sehr praxisnahe Fragen.»
Den Umgang mit den Studierenden bezeichnet sie als «professionell distanziert». Beim genaueren Nachfragen stellt sich heraus, dass sie stets ein offenes Ohr für deren Anliegen hat. Sie freut sich, wenn nach einer Vorlesung noch Studierende auf sie zukommen. Da dürfe es durchaus auch mal «menschelen». Dass ab und an Tränen fliessen – etwa bei Prüfungsbesprechungen – stört sie nicht. «Das gehört auch dazu.»
Offenlegung von Spenden
In ihrer Lehrtätigkeit versucht Karin Müller, komplexe Probleme einfach zu erklären und die jungen Menschen zum kritischen Denken anzuregen. Genau diese Fähigkeiten benötigt sie in ihrer Forschungsarbeit selber auch. In ihrer neuesten Publikation geht sie einer spannenden Frage nach: Sollen Unternehmen sich politisch engagieren, dürfen sie für wohltätige oder politische Zwecke spenden? «Ein brisantes Thema. Eines der ältesten Unternehmen der Welt, die schwedische Stora, die über 700 Jahre alt ist, musste sich im Laufe ihrer Geschichte mehrfach politisch engagieren, um zu überleben und Arbeitsplätze erhalten zu können.» Es gebe aber auch Beispiele, die zeigen, dass politisches Engagement heikel sei – etwa bei Spenden an politische Kräfte oder bei sozialpolitischem Engagement von Konzernen in Drittweltländern.
In ihrer Forschung klärt Müller, unter welchen Voraussetzungen Firmen politisch aktiv werden oder Spenden tätigen dürfen. Ihr Fazit: Politisches Engagement soll weder verboten noch sollen Unternehmen zu sozialpolitischem Handeln verpflichtet werden. «Die Regulierungsdichte ist bereits sehr hoch.» Zudem sind viele Unternehmen freiwillig bereit, sich sozial zu engagieren. In einem Punkt sieht sie jedoch Handlungsbedarf: Bei der Offenlegung von Spenden. «Die Aktionäre, also die Eigentümer der Gesellschaft, sollen wissen, wo das Geld des Unternehmens hinfliesst.» Es sei beispielsweise nicht im Interesse der Gesellschaft, wenn eine Baufirma eine Spende an eine Jagdgesellschaft ausrichtet, nur weil ein Verwaltungsratsmitglied im Vorstand der Jagdgesellschaft sitzt.
Neugier als Ansporn
Karin Müller ist mitten in ihrem Element. Sätze wie «Dabei ist zu beachten, dass eine rechtliche Regelung immer einen Ausgleich zwischen verschiedenen Interessen schaffen muss: denjenigen der Unternehmen selbst, der Gesellschafter, aber auch denjenigen der Gläubiger und der Allgemeinheit» sind für sie keine Floskeln. Und auch kein sprödes Fachjuristisch. Wo Rechtsunsicherheiten herrschen oder offene Fragen bestehen, versucht sie, Antworten zu finden. Diese Neugier spornt sie an. «Deshalb bin ich mit Leib und Seele Wissenschaftlerin.»
«Es gab an der Kantonsschule kein Fach, das ich nicht mochte.»
Rechtsprofessorin – dieser Beruf war ihr nicht in die Wiege gelegt worden. «Natürlich hatte ich schon als Kind einen starken Gerechtigkeitssinn.» Aber an der Kantonsschule merkte sie, dass sie eigentlich alles interessiert. «Es gab kein Fach, das ich nicht mochte.» Also versuchte sie es mit Philosophie und Romanistik. Und merkte bald, dass die beruflichen Aussichten nicht ganz ihren Vorstellungen entsprachen. Auch Molekularbiologie hätte sie gereizt. Schliesslich ist sie bei der Jurisprudenz gelandet. «Ein interessantes und vielseitiges Fachgebiet.» Etwas detailversessen müsse man schon sein, meint sie, korrigiert sich aber sogleich: «Wichtig ist es, die Details zu kennen, ohne den Blick fürs Ganze zu verlieren.»
Erste Dissertation an der Universität Luzern
Nach dem Studium erwarb Karin Müller das Anwaltspatent und arbeitete einige Jahre in der Privatwirtschaft. Als sie die Chance erhielt, an einem grossen Gesetzeskommentar mitzuarbeiten, entdeckte sie ihr Interesse für die Wissenschaft. Mit Mitte dreissig schrieb sie ihre Dissertation, sozusagen als Spätberufene. Müller lächelt. Dafür sei es die allererste Doktorarbeit an der damals noch jungen Universität Luzern gewesen. In der Folge arbeitete sie als Oberassistentin in Zürich, dann als Assistenzprofessorin und seit 2014 als Professorin in Luzern, nachdem sie sich an der Uni Zürich habilitiert hatte.
Die Juristin ist in der Stadt Luzern aufgewachsen und wohnt heute mit ihrem Partner in Baden. Auch privat lässt sie sich von ihrem wachen Geist und nimmermüden Wissensdurst treiben. Sie sei zwar ziemlich häuslich, räumt sie ein. Trotzdem geht sie gerne an Konzerte, ins Theater, trifft Freunde und Familie oder hält sich in der Natur auf. Reisen bezeichnet sie als ihr Hobby, und die Fotografie ist ein Steckenpferd. Begeistert erzählt Karin Müller, wie sie kürzlich einen Specht und einige Eichhörnchen in ihrem eigenen Garten ablichten konnte.
Von ihrem anspruchsvollen Beruf als Professorin entspannt sie sich am besten beim Kochen – fast immer zusammen mit ihrem Partner. Wobei anzunehmen ist, dass sie auch dabei mit viel Interesse und gut organisiert zur Sache geht. Karin Müller schmunzelt. Und nickt.