Um Infektionskrankheiten zu vermeiden, ist die Händehygiene in Spitälern schon lange standardisiert. Weshalb sie trotzdem nicht immer konsequent umgesetzt wird, untersuchte Larissa Haas in ihrer Masterarbeit.
Larissa Haas, wie kamen Sie zum Thema Ihrer Arbeit?
Larissa Haas: Ich hatte ein Seminar zur Gesundheit in der Weltgesellschaft besucht, in dem wir uns mit der Verbreitung von Viren und Infektionskrankheiten aus soziologischer Perspektive befassten. Das Thema faszinierte mich und liess mich nicht mehr los. So kam es, dass ich diese Thematik in meiner Masterarbeit vertieft habe.
Wie sind Sie vorgegangen?
Zunächst sichtete und analysierte ich sämtliche Dokumente, welche zur Thematik publiziert wurden. Danach führte ich auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse Beobachtungen in vier Schweizer Spitälern durch: in den Universitätsspitälern Zürich und Genf sowie in den Kantonsspitälern St. Gallen und Nidwalden. Die Beobachtungen stellten sich aber gerade aufgrund der standardisierten Hygienevorschriften als relativ schwierig heraus. So ist es heikel, wenn eine aussenstehende Person Operationssäle oder Patientenzimmer betritt, weshalb ich schliesslich vor allem ad hoc mit Spitalmitarbeitenden gesprochen sowie die Expertenmeinung der für die Spitalhygiene zuständigen Personen erfasst habe.
Was muss man sich unter dem Begriff Händehygienestandards vorstellen?
Es handelt sich um von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entwickelte Modelle, die dazu dienen, dass die Händehygiene auf der ganzen Welt gleich und effizient umgesetzt wird. Das schliesst auch die erlaubten Desinfektionsmittel mit ein. Die Analyse der Dokumente zeigte, dass die Standards mit der Zeit immer komplexer wurden: Galt zu Beginn bloss, sich einfach «nach Gutdünken» die Hände zu waschen, ist beim jüngsten Standard, dem sogenannten «Fünf-Momente-Modell», exakt festgehalten, bei welchen «Momenten» die Händehygiene erfolgen muss: vor Patientenkontakt, vor aseptischen Tätigkeiten, nach Kontakt mit infektiösen Materialien, nach Patientenkontakt und nach Kontakt mit der unmittelbaren Patientenumgebung.
Und, werden die Standards in den Spitälern immer eingehalten?
Tatsächlich ist die Umsetzung nicht 1:1 möglich. Es handelt sich hierbei eher um Modelle, die sehr theoretisch sind und einen Idealzustand wiedergeben, der punktuell an der Realität vorbeizielt. Studien zeigen etwa, dass die Pflegemitarbeitenden, wenn sie das Modell wie vorgesehen umsetzen würden, mehrere Stunden ihres Arbeitstages mit dem Desinfizieren ihrer Hände verbrächten. Auch belegen wissenschaftliche Untersuchungen, dass die Standards zum Teil aufgrund persönlicher, kultureller oder religiöser Gründe abgelehnt werden. Gemäss derselben Studie verzichten gewisse Spitalmitarbeitende auf die Händedesinfektion, weil sie den Patientinnen und Patienten nicht das Gefühl vermitteln möchten, dass diese unhygienisch seien. Das sind Faktoren, die das Modell nicht berücksichtigt. Meinen Beobachtungen zufolge ist es primär Zeitmangel, der zur Nichteinhaltung führt, oder es sind schlicht die Routine und in den Köpfen festgefahrene Muster, die es für das Pflegepersonal nicht einfach machen, sein Verhalten zu ändern. Die Verantwortlichen in den Spitälern sind sich des Mankos durchaus bewusst und versuchen, diesem gezielt entgegenzuwirken.
Wie versuchen sie das?
Wie das letztlich gehandhabt wird, ist unterschiedlich. Gewisse Spitäler geben Schulungen, andere hängen Plakate auf, einige Spitäler stellen im Intranet Dokumente zum Thema zur Verfügung, und wieder andere führen dazu individuelle Gespräche. Dann gibt es auch Spitäler, die grosse Marketing-Aktionen starten, um die Händehygiene bei ihren Mitarbeitenden zu «promoten».
Nützen diese Vorkehrungen etwas?
Es kommt darauf an, von welchen Vorkehrungen man spricht. Wenn Plakate gebastelt, Händehygiene-Tage durchgeführt, Spass-Fotos zum Thema in den Mitarbeitenden-Räumen aufgehängt und Videos zur Händehygiene produziert werden, mag dies vom Hintergedanken her gut sein, jedoch werden die Herausforderungen dadurch nicht behoben. Die meisten Schweizer Spitäler führen auch sogenannte Audits durch, also Inspektionen, um das Pflegepersonal mit Blick auf die Händehygiene zu überwachen und zu bewerten.
Wie oft finden solche Audits statt?
Das ist sehr individuell und hängt vom Spital ab. Es gibt einige Spitäler, bei denen das Credo herrscht, dass mindestens dreimal im Jahr auf jeder Abteilung ein Audit durchgeführt werden muss, während andere es machen, wenn sie gerade freie Kapazität dazu haben. Die Vereinigung für Fachkräfte im Bereich der Infektionskrankheiten Schweiz (Swissnoso) hat zudem die App «CleanHands» entwickelt, welche die Mitarbeitenden bei den Audits unterstützen soll. Auch hier sieht man je nach Spital starke Unterschiede bei der Benutzung.
Was bietet diese App?
Die App gibt das Fünf-Momente-Modell illustrativ wieder, wobei die Person, welche ein Audit durchführt, in der App eintragen kann, wenn die beobachtete Person die Händehygiene nicht so durchführt, wie vorgegeben. Das vereinfacht anschliessende Feedbacks. Zwar gab es bereits vor der Entwicklung dieser App Beobachtungsformulare von der WHO, die Handhabung war aber extrem mühsam: Nach den Audits wurden die Formulare nach Genf gesandt, dort eingescannt und ausgewertet; die Spitäler erhielten erst nach einem halben Jahr eine Rückmeldung. Bei der App werden die Daten automatisch zusammengeführt, und die zuständige Person sieht unmittelbar danach, auf welcher Abteilung Verbesserungsbedarf herrscht. Zudem kann die Anzahl durchgeführter Beobachtungen nachgeschaut und es können Statistiken generiert werden. Hier zeigt sich deutlich der Wille nach mehr Effizienz, Rationalität und Klarheit. Auch erlaubt die App den Spitälern, sich direkt mit anderen Spitälern zu vergleichen und sogenannte Benchmarkings durchzuführen: Bemerkenswerterweise wird gerade diese Funktion von den Nutzenden als Mehrwert interpretiert.
Diejenigen, die mit ihrem Namen hinter dem Standard stehen, sind dessen grösste Kritiker!
Es gibt Expertinnen und Experten, welche die Händehygienestandards kritisieren. Sind Sie solchen begegnet?
Zwei Personen, die ich interviewte, haben tatsächlich gewisse Aspekte hinterfragt. Interessanterweise waren beide selbst führende Akteure innerhalb der WHO-Expertengruppe, die das Fünf-Momente-Modell entwickelt hat. Ich habe gemerkt: Diejenigen, die mit ihrem Namen hinter dem Standard stehen, sind dessen grösste Kritiker!
In Ihrer Arbeit weisen Sie darauf hin, dass diese nichts mit dem Coronavirus zu tun hat. Inwiefern spielte dieser Aspekt für Ihre Arbeit trotzdem eine Rolle?
Diese Gleichzeitigkeit war tatsächlich purer Zufall. Just in der Schlussphase des Verfassens wurde das Virus in China zu einem grossen Thema. Damals hätte ich mir nicht ausgemalt, dass auch wir in Europa uns noch derart intensiv damit beschäftigen werden. Ich versuchte, an gewissen Stellen die Brücke zu diesem Thema zu schlagen und band – insbesondere in der Einleitung und im Schluss – einige Facts in die Arbeit mit ein, setzte mich alles in allem aber nicht vertieft damit auseinander.
Standards verändern sich. Was denken Sie, wie sieht es diesbezüglich in ein paar Jahren aus?
Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die aktuelle Pandemie auf Organisationen, beispielsweise in der Gastrobranche, in Schulen und Universitäten oder im Detailhandel, Auswirkungen hat und dort zu neuen Praktiken führt. Im Hinblick auf die geltenden Standards in Spitälern dürften allerdings keine grossen Veränderungen stattfinden: Viren und Infektionskrankheiten sind in diesen Organisationen seit jeher ein ganz grosses Thema – und bleiben es auch in Zukunft. Die hier geltenden Standards werden natürlich laufend überarbeitet und aktualisiert. Da Expertinnen und Experten mit dem aktuellen Modell noch immer nicht zufrieden sind, scheint es mir wahrscheinlich, dass dieses in ein paar Jahren so nicht mehr verwendet werden wird; in der WHO laufen diesbezüglich interessante Diskussionen.
Larissa Haas' Masterarbeit trägt den Titel «Implementierungsproblem? Die Umsetzung des Händehygienestandards in der Schweiz als Beispiel für reale Konformität mit unterwarteten Konsequenzen». Sie wurde von Dr. Nadine Arnold, Oberassistentin am Soziologischen Seminar, betreut.