Die Polarisierung in der westlichen Hemisphäre nimmt zu. Das belastet viele; die Mehrheit wünscht sich Kompromisse. Zu solchen zu gelangen, ist möglich, allerdings sollte man nicht den existenzialistischen Kern von Gesellschaftskonflikten lösen wollen.
«Entweder gibt es eine heilende Krise oder wir fahren uns selbst gegen die Wand.» Diese Aussage der bekannten amerikanischen Verhandlerin und Mediatorin Susan Podziba blieb mir nach einem Gespräch mit ihr noch lange im Gedächtnis haften. Podziba war eine wichtige Inspiration für meine beim damaligen SNF-Förderprofessor André Bächtiger am Politikwissenschaftlichen Seminar verfasste Dissertation und das darauf basierende, nun publizierte Buch «Overcoming Social Division». Der Hintergrund von Podzibas nicht gerade hoffnungsvoller Aussage ist die zeitgleiche Akkumulation von fünf Symptomen der gesellschaftlichen Spaltung, die den Rahmen meiner Studie bilden: Frustration, Fragmentierung, Entfremdung, Polarisierung und Eskalation. Sie sind die Ausgangslage des heutigen ungeheuerlichen Ringens um politische Deutungshoheit. Gleichzeitig führen sie zu tiefgreifenden Rissen in unserem Zusammenleben. Nur wenn wir diese Kräfte verstehen, können wir wirksame Ideen zur Verbesserung des gesellschaftlichen Kitts entwickeln.
Menschen mit verschiedenen politischen Ansichten oder kulturellen Prägungen leben immer seltener Tür an Tür.
Sachlich miteinander reden ist oft der erste logische Schritt. Allerdings werden die Anreize und Gelegenheiten immer weniger. Statistiken zeigen, dass wir uns immer mehr mit Menschen umgeben, die uns gleichen und gleich denken. Menschen mit verschiedenen politischen Ansichten oder kulturellen Prägungen leben immer seltener Tür an Tür. Auch in Grossstädten nimmt die Konzentration bestimmter Milieus in einzelnen Vierteln zu. Das Argument «Früher gab es das auch schon» höre ich oft. Aber heute überschneiden sich die Identitäten in den einzelnen Gruppen viel kohärenter – deshalb spüren viele Menschen die Polarisierung so stark. Diese ist an sich nicht negativ. So besteht kein Zweifel, dass der Wettbewerb um das beste politische Argument oder die beste Kandidatin sich positiv auf das Gemeinwohl einer Nation auswirken kann. Wenn dieser Wettbewerb aber nur noch auf das Kräftemessen zwischen gegnerischen Gruppen zielt, wenn es nur noch ums Gewinnen geht, wird es problematisch. Wir sind bereits so weit, dass Bürgerinnen und Bürger in Europa demokratisch zustande gekommene Entscheidungen partout nicht mehr akzeptieren. Disruptive Kräfte rütteln also an den Grundfesten der Demokratie und am gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Sicher: Als Chance begriffen, können Konflikte und Spannungen zu nuancierteren Debatten und besseren Entscheidungen führen. Aber wann gelingt das? In meinem Buch mit seiner vergleichenden den Studie von knapp zwei Dutzend gesellschaftlichen Mediationsverfahren ist mir ein wichtiges Charakteristikum aufgefallen, über das noch zu wenig Wissen vorhanden ist: Prozessmuster, auch mithin die «Black Box» der Mediation genannt. Die Resultate aus dem Projekt bestätigen, was bisher nur anhand von Einzelfällen aufgezeigt werden konnte: Je höher die Inklusion eines Verfahrens, je kleiner die politische Einflussnahme und dje besser es der Mediatorin oder dem Mediator gelingt, Anerkennung auf allen Seiten zu erreichen, desto mehr steigt die Chance auf einen Konsens. Dieses Muster zeigt sich auch bei komplexen und hoch eskalierten Verfahren wie dem Bau eines Asylzentrums oder der Rodung von Bäumen.
Moralische Grundlagen unantastbar
Tritt ein solches Muster auf, hilft es den Konfliktparteien, sich von ihrer festgefahrenen Angriffs- und Verteidigungskommunikation zu befreien und die Voraussetzung für eine konsensuale Übereinkunft zu verbessern. Die australischen Politikwissenschaftler John Dryzek und Simon Niemeyer sprechen in dieser Hinsicht auch von «Meta-Konsensen». Diese bleiben uns bei einem Streit mit einem Andersdenkenden zunächst verborgen. Dieser blinde Fleck – das Verständnis, dass wir doch etwas ähnlich sehen könnten – verhindert das Anheben des Abstraktionslevels eines gesellschaftlichen Konfliktes. Zum Beispiel gesetzlich erlaubte Abtreibungen: Wie sollen polarisierte Abgeordnete einen Kompromiss finden? Anhand ihrer Wertevorstellungen? Schwierig. Anhand einer Kosten-Nutzen- Rechnung? Absurd. Bedauerlicherweise laufen solche Diskussionen auf Nullsummenspiele von politischen Lagern hinaus und spalten die Gesellschaft. Deshalb müssen wir widersprüchliche Werte als gegeben akzeptieren. Die meisten Menschen handeln auf der Basis einer moralischen Grundlage – und genau dieser existenzialistische Kern kann für andere unter Umständen unerträglich sein.
Meta-Konsense bieten die Chance auf einen Ausweg. Politische Gegnerinnen und Gegner können in der Strukturierung des Entscheidungsproblems übereinstimmen, nicht jedoch in der bevorzugten Lösung. Es gibt also zunächst eine gemeinsame Einigung über das, «was zu tun ist», und nicht darüber, «was sich zu tun gehört». Das Polarisierungspotenzial bleibt, aber gleichzeitig wird dem menschlichen Bedürfnis, respektiert und anerkannt zu werden, Rechnung getragen. Ein Konsens zwischen liberalen und konservativen, religiösen Politikerinnen und Politikern konnte in der Abtreibungsfrage bezeichnenderweise nur durch ein gemeinsames Verständnis über den Schutz der Frau, der medizinischen Versorgung oder der Rechtssicherheit gefunden werden, nicht aber darüber, wann das Leben eines Menschen beginnt.
Die Effektivität, zwischen Konfliktparteien mit gegenteiligen Weltansichten zu vermitteln, hängt daher insbesondere von der Fähigkeit ab, diese in der Entscheidungsfindung einander gegenüber neu zu orientieren. Wir können uns durchaus eine grössere soziale Distanz zu unseren Mitbürgerinnen und -bürgern leisten und den existenziellen Kern erst einmal unangetastet lassen, ohne die Verbindungen zu ihnen komplett aufgeben zu müssen. Aber ohne Kompass über bestehende Gemeinsamkeiten und Abhängigkeiten, die wir auf engem Raum, in der Nachbarschaft, der Stadt oder der Nation teilen, werden uns kontroverse demokratische Entscheidungen immer weniger gelingen.