Christa Preisig arbeitet als von der Eidgenossenschaft abgeordnete Juristin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. Breit interessiert, kommt dies der 34-Jährigen aufs Beste entgegen.
Christa Preisig, seit zwei Jahren sind Sie am EGMR tätig. Dies, nachdem Sie von der Abteilung VI des Bundesverwaltungsgerichts in St. Gallen, Ihrem eigentlichen Arbeitsort, temporär «ausgeliehen» wurden. Wie muss man sich Ihre Tätigkeit vorstellen?
Christa Preisig: Als eine von drei Schweizer Juristinnen und Juristen bearbeite ich gegen die Schweiz gerichtete Beschwerden und Anträge auf vorsorgliche Massnahmen: Ich verschaffe mir einen Überblick über das innerstaatliche Verfahren, analysiere die vorgebrachten Rügen, kläre die Rechtslage und die einschlägige EGMR-Rechtsprechung ab und verfasse zuhanden meiner Vorgesetzten und der Richterschaft eine Einschätzung, ob der Fall direkt im einzelrichterlichen Verfahren erledigt werden kann oder aber der Schweizer Regierung zur Stellungnahme mitgeteilt werden sollte. Anders als am Bundesverwaltungsgericht, wo ich Beschwerden im Ausländer- und Bürgerrecht bearbeitet habe, betreffen die Materien hier die ganze denkbare Bandbreite an Rechtsstreitigkeiten: von Sorgerechtsfällen über Haftsachen bis zum Migrationsrecht. Die Arbeitsatmosphäre ist toll und das internationale Flair unglaublich bereichernd.
Anders als am Bundesverwaltungsgericht [...] betreffen die Materien hier die ganze denkbare Bandbreite an Rechtsstreitigkeiten.
Wollten Sie schon immer im menschenrechtlichen Bereich arbeiten?
Meinen Eltern zufolge hatte ich als Kind in Ferien im Elsass beim Vorbeifahren am architektonisch auffälligen EGMR-Gebäude gesagt, dass ich da unbedingt mal arbeiten wolle. Ich kann mich daran zwar nicht mehr erinnern, aber ich habe mich effektiv schon sehr früh leidenschaftlich für Politik und die Stellung des Individuums in der Gesellschaft und im politischen System interessiert. Dies hat bei der Studienwahl durchaus eine Rolle gespielt. Welche fundamentale Bedeutung Menschenrechte in juristischer Hinsicht haben, ist mir dann im zweiten Semester an der Universität Luzern in der Staatsrechtsvorlesung von Professorin Martina Caroni klar geworden.
Der EGMR sieht sich in der Schweiz teils Kritik ausgesetzt – Stichwort «fremde Richter». Was sagen Sie dazu?
Der Gerichtshof betont stets die seinen Mitgliedstaaten zustehenden Beurteilungsspielräume. Dies ist keine leere Worthülse: Der EGMR nimmt diese Spielräume sehr ernst und wägt sorgfältig zwischen der Souveränität der Mitgliedstaaten und der Notwendigkeit eines einheitlichen internationalen Menschenrechtsschutzes ab. Sämtliche Urteile werden nach sorgfältiger Prüfung der Argumente beider Parteien, also der beschwerdeführenden Partei auf der einen und der Schweizer Regierung auf der anderen Seite, gefällt. Zudem fliessen insbesondere auch die fundierten rechtlichen Abklärungen zur Schweizer Rechtslage und den innerstaatlichen Verhältnissen durch Juristinnen und Juristen am EGMR, die das Rechtssystem der Schweiz sehr gut kennen, mit ein.
Welche Eigenschaften sind in diesem Job besonders wichtig?
Oft hört man, dass man sich als Juristin oder Jurist auf ein Rechtsgebiet spezialisieren sollte. Umso glücklicher bin ich als breit interessierte Juristin mit einer besonderen Leidenschaft fürs öffentliche und das Verwaltungsrecht, dass ich beim EGMR das Privileg habe, mich aufgrund der vielfältigen Beschwerdegegenstände fast täglich in eine andere Materie vertiefen zu können. In Strassburg sind zudem Sprachkenntnisse besonders wichtig. Diesbezüglich hat mir der zweisprachige Master (Luzern/Neuenburg) sehr geholfen. Auch bei der Tätigkeit als wissenschaftliche Assistentin an der Uni sowie beim Anwaltspraktikum und bei der Anwaltsprüfung war dies ein Vorteil.
Welchen Rat würden Sie Studierenden mit auf den Weg geben?
Ich selbst hatte mich während des Studiums viel zu sehr an vorgegebene Wege gehalten, ohne mich zu erkundigen, was überhaupt alles möglich gewesen wäre. So war es mir nicht einmal in den Sinn gekommen, mich zu informieren, ob es beispielsweise am EGMR Praktika gibt (und ja, die gibt es natürlich). Das scheint mir gerade für Studierende, die – wie ich – nicht aus einem akademischen Elternhaus kommen, sehr wichtig.
Ich würde mein früheres Ich ermuntern, sich aktiv und mutig über die unzähligen Möglichkeiten zu informieren und seinen fachlichen Vorlieben zu folgen.
Im Rückblick hätte ich wohl auch meine Fächerauswahl selbstbewusster auf meine Interessen im öffentlichen und internationalen Recht sowie Verwaltungsrecht ausgerichtet, statt aus vermeintlichen Vernunftgründen viele auf den Anwaltsberuf zugeschnittene Vorlesungen zu besuchen. Ich würde daher mein früheres Ich ermuntern, sich aktiv und mutig über die unzähligen Möglichkeiten zu informieren und seinen fachlichen Vorlieben zu folgen. Das Jus-Studium kann schliesslich so viele Türen in diverse Rechtsgebiete und Berufe öffnen.
Und wo sehen Sie Ihre Zukunft? In der Schweiz oder in Strassburg?
Noch bis Ende 2023 bleibe ich am EGMR und nehme danach meine Arbeit als Gerichtsschreiberin am Bundesverwaltungsgericht wieder auf. Ich fühle mich unglaublich privilegiert, dass ich drei Jahre an dieser wichtigen internationalen Institution arbeiten darf. Für mich war aber klar, dass ich mittelfristig wieder zurück in die Schweiz möchte.
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Sina Tannebaum
Sektionsvorsteherin Rechtswissenschaft der ALUMNI Organisation. Sie ist beim Eidgenössischen Finanzdepartement (EFD) als Juristin tätig.