Sowohl vom Konzept Ehre als auch vom Schutz der Ehre können je nach kultureller und religiöser Prägung unterschiedliche Vorstellungen bestehen. Strafrechtsprofessor Andreas Eicker hat einen Vergleich zwischen der Schweiz und der Türkei vorgenommen.
Andreas Eicker, wie kam es dazu, dass Sie explizit zum Ehrbegriff forschen?
Andreas Eicker: Der Hintergrund ist, dass bereits in der Schweizer Rechtsordnung nicht ganz klar ist, was unter Ehre genau zu verstehen ist. So stellen sich im strafrechtlichen Bereich Fragen wie: Wer ist Träger des Rechtsgutes Ehre? Haben Unternehmen und juristische Personen eine Ehre? Ist nur die äussere oder auch die innere Ehre geschützt? Zudem wird das Rechtsgut Ehre oft nur im Zusammenhang mit Ehrverletzungsdelikten thematisiert, also Straftaten, welche die Ehre einer anderen Person gefährden oder verletzen.
Was gibt es denn noch?
Sogenannte «Ehrschutzdelikte», bei denen der Täter oder die Täterin Rechtsgüter anderer verletzt, um beispielsweise die eigene Ehre oder die Ehre der Familie etc. zu bewahren oder wiederherzustellen. Hierunter fallen Gewalttaten im Namen der Ehre, zum Beispiel Ehrenmorde. Unsere Rechtsordnung hat immer mal wieder mit solchen Fällen zu tun, aber andere Rechtsordnungen begegnen dem viel öfter. Mit Rücksicht auf solche Fragen wollte ich herausfinden, welche strafrechtliche Bedeutung der Begriff Ehre in Rechtsordnungen hat, denen man gemeinhin unterstellt, dass die Ehre einen höheren Stellenwert als hierzulande hat, und inwiefern Religion bei der Entwicklung des Ehrverständnisses eine Rolle spielt.
Daher also die Türkei – Sie realisierten die Forschung zusammen mit vier türkischen Universitäten – als Vergleichsland?
Natürlich hätte es auch ein anderes Land sein können, jedoch habe ich Kontakte in die Türkei, die mir immer wieder von grossen Problemen mit Gewalttaten im Namen der Ehre berichteten. Es bot sich deswegen an, für eine allfällige Zusammenarbeit diese Kolleginnen und Kollegen zu kontaktieren. Zudem war mir bekannt, dass in der türkischen Sprache unterschiedliche Begriffe für Ehre benutzt werden.
Worin bestehen rechtliche Unterschiede im Ehrverständnis der Türkei und der Schweiz?
Was den Schutz der persönlichen Ehre anbelangt, gehen die schweizerische und die türkische Rechtsordnung nicht von grundlegend verschiedenen Konzepten
aus. Die individuelle Ehre ist auch in der Türkei geschützt, und Delikte wie der Ehrenmord sind dort sogar explizit als qualifiziertes – also besonders gravierendes – Tötungsdelikt unter Strafe gestellt. Davon wird in der Praxis aber sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht. Meistens wird die Tat nur als einfache vorsätzliche Tötung gewertet, sodass dann sogar noch die Möglichkeit besteht, dass der Täter von einer Privilegierung profitiert, beispielsweise der ungerechtfertigten Aufreizung durch die Frau. Der Türkei ist es bis anhin nicht gelungen, die Zahl der Ehrenmorde zu reduzieren. Wie gesagt, gibt es im Türkischen unterschiedliche Ehrbegriffe, die sich auf gesellschaftliches Ansehen beziehen. Zudem kennt das türkische Strafgesetzbuch bei einer Beleidigung gegenüber der Religion spezielle Strafverschärfungsgründe, und die staatliche Ehre wird durch mehrere Straftatbestände explizit geschützt.
Wie sind Sie bei der Durchführung des Projekts konkret vorgegangen?
Ich habe, um ein Bild vom vorherrschenden Ehrverständnis und den Strafbedürfnissen zu erlangen, Erhebungen unter Studierenden der Universität Luzern und an den vier türkischen Universitäten durchgeführt. Anschliessend habe ich jeweils eine Vorlesung zum Thema Ehre und Strafrecht gehalten und bin sodann auf dieser Basis in eine Diskussionsrunde mit Studierenden und Dozierenden eingetreten, um die jeweiligen Standpunkte noch besser auszuloten.
Man darf wohl den Schluss ziehen, dass nicht der Faktor Religion allein für das Ehrverständnis ausschlaggebend ist.
Was sind Ihre bisher gewonnenen Erkenntnisse in Bezug auf religiöse Prägung beim Ehrverständnis?
Die Erhebungen haben gezeigt, dass sich die grössten Unterschiede erst ergeben, wenn man anstatt nach der Religion nach der kulturellen Herkunft differenziert. Man darf wohl den Schluss ziehen, dass nicht der Faktor Religion allein für das jeweilige Ehrverständnis ausschlaggebend ist, sondern vielmehr, in welcher Kultur beziehungsweise Gesellschaft und Rechtsordnung man sozialisiert wird. Das Ehrverständnis und damit verbundene Schutz- und Sanktionserwartungen entstehen in einem Zusammenwirken von Faktoren wie Erziehung, gelebtem Rollenverständnis, gesellschaftlichen Erwartungen, erlebter Rechtsordnung und so weiter. Allerdings muss man vorsichtig sein mit Schlussfolgerungen, da die vorgenommene Stichprobe für allgemeingültige Aussagen nicht gross genug ist. Wie erwartet, hat sich aber gezeigt, dass für Verhaltensweisen, die mit der eigenen, praktizierten Religion in Zusammenhang stehen, mehrheitlich kein Sanktionsbedürfnis gesehen wird.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen wir das Thema Beschneidung: Für die medizinisch nicht indizierte Genitalbeschneidung eines urteilsunfähigen Jungen – im Islam mitunter ein symbolischer Akt zu Ehren Gottes – bestand unter den befragten muslimischen Studierenden mehrheitlich kein Sanktionsbedürfnis. Dies im Kontrast zu den befragten Studierenden christlichen Glaubens in der Schweiz, welche die Beschneidung als Körperverletzung betrachteten und sich zu 94 Prozent für die Strafbarkeit aussprachen.
Was waren die Herausforderungen bei diesem Projekt?
Herausfordernd war, gegenüber türkischen Studierenden und Dozierenden darzulegen, weshalb in der Schweiz gewisse Diskussionen geführt werden. Schon die Frage, ob man das freiwillige Tragen eines Gesichtsschleiers verbieten und sanktionieren soll, war für die allermeisten überraschend. Es war und ist dann auch schwer zu begründen, welche Rechte respektive Rechtsgüter überhaupt strafrechtlich geschützt werden sollen, wenn der Schleier beispielsweise zum Schutz der eigenen Ehre tatsächlich freiwillig getragen wird. Man muss ja immer bedenken, wofür Strafrecht eigentlich gedacht ist: Strafrecht ist das schärfste Schwert, welches dem Staat zur Verfügung steht, und es ist als ultima ratio gedacht. Es hat mithin fragmentarischen Charakter und ist kein taugliches Mittel, um Verhaltensweisen, die möglicherweise von Einzelnen als irgendwie störend empfunden werden könnten, sanktionierend zu verbieten. Klar etwas anderes gilt, wenn eine Frau dazu gezwungen wird; dies wird aber sowieso schon vom Nötigungstatbestand im Strafgesetzbuch erfasst, insofern braucht es keine zusätzlichen Verbote und Sanktionen.
«Es war beeindruckend zu sehen, wie offen in der Türkei trotz des politischen Klimas über diese Themen diskutiert wurde.»
Was beeindruckte Sie während Ihrer Forschung?
Zu sehen, wie offen in der Türkei trotz des politischen Klimas seitens der Studierenden und Dozierenden über diese Themen diskutiert wurde. Nur an einer Universität wurde während meiner Vorlesung zwei, drei Male eingegriffen. Da hatte ich dann schon den Eindruck, dass noch etwas «richtiggestellt» werden sollte. Meine türkischen Kolleginnen und Kollegen und auch die Studierenden haben es aber sehr geschätzt, über diese Aspekte zu diskutieren.
Und so am Austausch teilnehmen zu können …
Genau. Denn im Moment ist in der Türkei das Problem, dass viele Tagungen und Veranstaltungen abgesagt werden. Damit werden die türkischen Kolleginnen und Kollegen im wissenschaftlichen Austausch isoliert. Viele trauen sich auch nicht mehr, so offen zu schreiben und zu formulieren wie früher. Sie sind vorsichtig geworden und fühlen sich kontrolliert. Deswegen wurde es allseits sehr geschätzt, dass ich gekommen bin und sie am wissenschaftlichen Diskurs partizipieren konnten.
Was ist als Nächstes geplant?
Nach einer abgehaltenen internationalen Konferenz inklusive Tagungsband im Rahmen des Forschungsschwerpunkts «FaMiGlia» [siehe Box; Anm. d. Red.] mit Professorin Stephanie Klein und einer gemeinsamen Lehrveranstaltung geht es nun natürlich noch darum, die gewonnenen Erkenntnisse zu publizieren. Angedacht ist zudem, weitere Rechtsvergleiche anzustellen. Ich könnte mir eine Ausweitung insofern vorstellen, dass man nicht nur Studierende in der Türkei befragt, sondern noch weitere Länder hinzunimmt.
Familie im Wandel
Die Studie von Strafrechtsprofessor Andreas Eicker (siehe Interview) ist Teil des universitären Forschungsschwerpunktes (FSP) Wandel der Familie im Kontext von Migration und Globalisierung (FaMiGlia). Dieser wird bis 2021 unter der Leitung der Professorinnen Bettina Beer, Martina Caroni und Stephanie Klein durchgeführt.
Der FSP FaMiGlia untersucht Pluralisierungsprozesse und den Wandel von Familie und Verwandtschaft im Kontext von Migration und Globalisierung. Neue familiäre Lebensformen und Technologien haben bestehende kulturelle, religiöse und rechtliche Vorstellungen sowie Normen auf den Prüfstand gestellt. Migrations- und Globalisierungsprozesse verändern das Alltagsleben von Menschen und ihre Beziehungen zueinander und stellen weltweit immer stärker die unterschiedlichen Familienkonzepte in Frage. Davon sind auch kirchliche und politische Debatten sowie die Gesetzgebung und die Rechtspraxis betroffen. Der FSP FaMiGlia widmet sich zentralen Fragen dazu: Wie verändern sich familiäre Beziehungen und verwandtschaftliche Praktiken im Kontext von Migration und Globalisierung? Wie wirkt sich dieser Wandel auf gesellschaftliche, religiöse und rechtliche Diskurse und Institutionen aus? Fragen der kulturellen Vielfalt und der Wandlungsprozesse von Familie, der religiösen Orientierung und rechtlichen Reglungen werden anhand verschiedener Fallstudien untersucht.
Ziel ist der interdisziplinäre Austausch der Fakultäten, die Förderung wissenschaftlichen Nachwuchses und das Interesse von Studierenden für zentrale Forschungsfragen zu wecken und diese miteinzubeziehen. Zudem dient der Schwerpunkt der nationalen und internationalen Vernetzung und Sichtbarkeit der Universität Luzern.