Gottesdienste mitzufeiern, ist selbst für viele Katholikinnen und Katholiken nicht Usus. Es erscheint ihnen wenig reizvoll. Dann wieder gibt es Situationen im Leben, wo der heutige Zeitgenosse gerade die Fülle von Reizen in der Kirche sucht. Haben Liturgiefeiern also doch etwas Reizvolles?
Palmsonntag 2019 irgendwo in einer katholischen Gemeinde. Kinder, Jugendliche und Erwachsene versammeln sich an diesem Morgen vor dem Portal ihrer Kirche, in den Händen grüne Palmbüschel, die sie mit bunten Eiern, Bändern und mancherorts auch Äpfeln geschmückt haben. Die Ministranten und der Priester tragen besondere Gewänder, bei denen die rote Farbe hervorsticht. Aus einem Weihrauchfass dringt wohlriechender Duft in die Nasen der Versammelten und seine Ketten klingeln leise in ihren Ohren.
Begrüssung von Jesus
Nach ein paar Worten und einem Gebet besprengt der Priester die Palmbüschel mit Wasser. Anschliessend verteilen die Ministrantinnen und Ministranten die in Körben bereitstehenden Zweige an die Versammelten, damit jeder und jede einen Palmbüschel in den Händen halten kann. Dann verkündigt der Priester aus einem kostbar gestalteten Buch das Evangelium vom Einzug Jesu in Jerusalem. Wie die Menschen damals begrüssen auch die heute Feiernden den vom Ölberg auf einem Esel herunterreitenden Jesus mit ihren Palmbüscheln und rufen ihm zu: «Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn.» Unter Gesang folgen sie dem Kreuz, das eine Ministrantin voranträgt, und ziehen in die Kirche ein, als wäre diese das Jerusalem von damals und sie diejenigen, die am Wegesrand standen, um Jesus willkommen zu heissen.
Die Liturgie des Palmsonntags zeigt sich als ein Anlass, der alle Sinne anspricht. Hier gibt es viel zu sehen, zu hören, zu tasten, zu riechen, hier kommt der ganze Mensch in Bewegung. Auf das zentrale Nervensystem der Anwesenden stürmt also eine ganze Flut von Reizen ein, die verarbeitet werden wollen. Dies geschieht weitgehend unbewusst und ist bei jeder und jedem verschieden.
Ein Reiz ist zunächst einmal schlicht eine Einwirkung auf eine Sinneszelle, wodurch es in dieser Zelle zu einer Veränderung des Membranpotenzials kommt. Jeder Sinneszelle ist eine Nervenzelle zugeordnet, die in Folge auch auf diese Einwirkung reagiert und aktiv wird. Bei dem Beispiel aus der Palmsonntagsliturgie handelt es sich allesamt um äussere, das heisst aus der Umwelt stammende Stimuli, die zur Aktivierung von Nervenzellen führen (Bottom-up-Auslöser). Für die Verarbeitung im Zentralnervensystem werden aber nicht nur diese äusseren Stimuli herangezogen, sondern ebenso innere Stimuli (Top-down-Auslöser). Damit gemeint sind Erinnerungen, Vorstellungen und Erfahrungen, die in verschiedenen Arealen des Gehirns gespeichert sind. Gemeinsam erzeugen Bottom-up- und Top-down-Auslöser die Wahrnehmung der Wirklichkeit eines Individuums. Sprich: Jede und jeder erlebt ein Ereignis anders.
Gottesdienste geben die Möglichkeit, an einem die Gegenwart überschreitenden Interpretationssystem des Lebens teilzuhaben.
Äussere und innere Reize sowie ihre je individuelle Verarbeitung entscheiden darüber, ob eine liturgische Feier als «reizvoll», im Sinne von ansprechend und anregend, oder als «reizarm» im Sinne von wenig ansprechend, langweilig oder nichtssagend empfunden wird. Als «reizend» bezeichnet man etwas, das als gewinnend, anziehend, sympathisch, ja vielleicht sogar als hinreissend empfunden wird. Das könnte auch der erste Eindruck von der oben geschilderten gottesdienstlichen Sequenz sein: Es ist doch nett und spricht das Herz an. Da gibt es Kinder, die dürfen etwas machen, und es ist so schön bunt.
Reise zum Sinn des Lebens
Aber natürlich geht es um mehr. Es ist eine alte Weisheit, dass Sinnlichkeit Sinn aufscheinen lässt. Die ursprüngliche Bedeutung von Sinn ist Weg, Gang, Reise. Im italienischen Wort «sentiero» (Pfad) ist diese Erstbedeutung noch enthalten: Glauben und Glauben feiern ist sinnlich, also eine Suchbewegung, eine Reise zum Sinn des Lebens, der für die Glaubenden Gott selbst ist. Was mit den Augen gesehen wird, mit den Ohren gehört, mit der Nase gerochen und der Zunge geschmeckt werden kann, sind Medien, die eine Wirklichkeit vermitteln (wollen), die über das Gesehene oder Gehörte hinaus geht, aber nur durch diese vermittelt werden kann. In diesem Sinne muss Gottesdienst sogar «reizend» sein, weil dies eine «Widerfahrnis des Transzendenten» (Josef Wohlmuth) ermöglicht. Eine reizlose respektive reizarme Liturgie würde diese Erfahrung geradezu verhindern.
Das Wortfeld von «Reiz» beinhaltet durchaus auch negative Konnotationen. Jemand, der als leicht reizbar gilt, ist schnell ärgerlich, ungeduldig, aufbrausend, unbeherrscht oder hitzköpfig. Solche Eigenschaften isolieren den Einzelnen, weil die Verarbeitung der auf ihn einströmenden Reize das Miteinander einschränkt. Gottesdienst will genau das Gegenteil bewirken: Die Feiernden treten ein in ein Geschehen, das sie in ihrer Existenz als Gemeinschaft und als Einzelne zurückbindet an die Ursprünge. Christliche Feste wiederholen sich im Rhythmus der Zeit und lassen zentrale Inhalte zirkulieren wie die Schöpfung, die Geschichte Gottes mit Israel und den Anbruch der Königsherrschaft Gottes in Jesus von Nazareth, in seinem Tod und seiner Auferstehung als der schon jetzt angebrochenen, befreienden Zukunft. Insofern können die im Gottesdienst ausgesendeten Reize auch genau die Erinnerungen aktivieren, die man als kulturelles und kollektives Gedächtnis bezeichnet.
Wahrnehmungen des gottesdienstlichen Geschehens sind ausgesprochen individuell und gleichzeitig überindividuell, weil Gottesdienst die Möglichkeit gibt, an einem die Gegenwart überschreitenden Interpretationssystem des Lebens teilzuhaben. Das aber macht ihn gerade besonders reizvoll.