Gleichzeitig Spitzensport betreiben und studieren: Um dies zu ermöglichen, braucht es eine Flexibilisierung an den Hochschulen. Wie Forschung zeigt, hätte eine vermehrte Berücksichtigung von Dualität auch in der Arbeitswelt positive Effekte.
Manche Spitzensportlerinnen und -sportler haben am Ende ihrer sportlichen Karriere finanziell für den Rest ihres Lebens ausgesorgt. Für die meisten unter ihnen gilt jedoch, dass sie bereits während ihrer sportlichen Laufbahn ihre berufliche Karriere vorantreiben müssen. Der Begriff duale Karriere ist im Zusammenhang mit der Verbindung von Sport- und Berufskarriere inzwischen etabliert, doch er beschreibt genauso Karrieresituationen, in denen es darum geht, Familie und Beruf oder Studium und Beruf in Einklang zu bringen. Für die Ermöglichung dualer Karrieren in Spitzensport und Studium haben sich Mitte Oktober swissuniversities, die Rektorenkonferenz der schweizerischen Hochschulen, und Swiss Olympic in einer gemeinsamen Erklärung ausgesprochen.
Während die sportliche Karriere akribisch organisiert wird, kommt die Planung der beruflichen Laufbahn ausserhalb des Sports oft zu kurz. Dabei ist bei Spitzensportlerinnen und -sportlern ein Karrierebruch vorhersehbar und kommt manchmal leider auch abrupt. Strukturelle Rahmenbedingungen für eine duale Karriere in der Hochschule sollen den Weg ebnen, sich nicht entweder für Sport oder für eine andere Karriere entscheiden zu müssen, sondern eine Karriere neben der sportlichen Laufbahn aufzubauen.
Der Faktor Zeit
Die Herausforderung dualer Karrieren ist die jeweils zeitliche Beanspruchung in beiden Teilkarrieren. Es geht um die gleichzeitige Bewältigung von Anforderungen aus ganz unterschiedlichen Lebensbereichen. Das Studium fällt nämlich in eine spezifische Lebensphase, wie die Sportsoziologin Carmen Borggrefe mit ihren Kollegen argumentiert, die sich weit gehend mit dem Zeitfenster für eine spitzensportliche Laufbahn überschneidet. Sie lässt sich auch nicht beliebig nach hinten verschieben oder verlängern. Ein standardisierter Studienaufbau sowie Regelstudienzeiten und fixe Sprechzeiten sind mit den Anforderungen des Leistungssports nicht kompatibel. Da sich an den zeitlichen
Anforderungen für Trainings und Wettkämpfe im Spitzensport kaum rütteln lässt, ist die Organisation Hochschule an dieser Stelle gefragt. Welche Möglichkeiten der Flexibilisierung gibt es überhaupt? Und dies, ohne ein «Studium light» umzusetzen, denn das wäre sowohl für die studierenden Spitzensportlerinnen und -sportler als auch auf Seiten der Hochschule kontraproduktiv und ist unbedingt zu vermeiden.
Die Anpassung von Prüfungsterminen an den Trainings- und Wettkampfkalender, aber auch eine Abstimmung der Trainingszeiten und Trainingsorte mit dem Stundenplan erfordern allerdings nicht nur eine hohe Motivation und ein individuelles Zeitmanagement der Spitzensportlerinnen und -sportler, sondern die Koordination zahlreicher Akteure aus verschiedenen Leistungsbereichen (Trainerinnen, Betreuer, Vereinsverantwortliche sowie Dozierende, Mitstudierende usw.) und deren grundsätzliche Bereitschaft, Studium und Spitzensport miteinander zu verbinden. Die Entwicklung onlinegestützter Lehr- und Lernformate sowie ein zusätzliches Angebot zur Kompensation verpasster Präsenzzeiten sollten keine Sonderleistungen für Spitzensportlerinnen und -sportler sein, sondern auch für andere Studierende bzw. Studierendengruppen offenstehen. In den vergangenen Monaten wurden – zugegebenermassen durch die Pandemie erzwungen – zahlreiche Formen der Flexibilisierung und neue Interaktionsformate erprobt.
Hinterfragen aktueller Praktiken
Für die Hochschule bieten sich rund um das Thema duale Karriere Möglichkeiten einer Profilschärfung: Eine positive öffentliche Wahrnehmung sowie Synergieeffekte für andere Inklusionsgruppen können Nebeneffekte bei einer erfolgreichen Umsetzung dualer Karrieren von Spitzensportreibenden sein. Dass die Organisation Hochschule es schaffen kann, strukturelle Rahmenbedingungen – das Spektrum reicht dabei von innovativen Lehr- und Lernmethoden bis zu individuellen Studienbausteinen – zu entwickeln, zeigt darüber hinaus, dass es Wege zu einem nachhaltigeren und sogar effektiveren Arbeitsleben generell geben kann. Dazu zählt die Infragestellung der bis vor Kurzem als selbstverständlich geltenden Erwartung, dass der ideale Mitarbeiter bzw. die ideale Mitarbeiterin im Vollzeitpensum im Office mindestens von 9 bis 17 Uhr arbeitet und darüber hinaus erreichbar ist.
Die Organisationssoziologinnen Erin Kelly und Phyllis Moen schlagen auf der Grundlage jahrelanger empirischer Forschung und Feldexperimente in US-Unternehmen eine duale Agenda für die Neugestaltung von Arbeit und Karriere vor. Die Dualität bezieht sich auf die Tatsache, dass strukturelle Veränderungen sowohl organisatorische Belange (effektives Arbeiten) als auch die Belange der Beschäftigten (nachhaltigeres und gesünderes Arbeiten, das persönliche und familiäre Prioritäten widerspiegelt) berücksichtigen. Diese Agenda startet damit, aktuelle Praktiken dahingehend zu hinterfragen, was für das Unternehmen und was für Arbeitnehmerinnen und -nehmer eigentlich funktioniert, und auszuprobieren, welche Arbeitsabläufe die Zeitautonomie ihrer Mitarbeitenden erhöhen.