Nadja Waibel erforschte Biografien von katholischen Gemeindeleiterinnen. In Interviews befragte sie diese nach ihren Erfahrungen als berufstätige Frauen in der Kirche – damit wird auch ein Stück Zeitgeschichte festgehalten.
Die «Allgemeine Erklärung der Menschenrechte» spricht allen Menschen die gleiche Würde und die gleichen Rechte zu. Doch in der katholischen Kirche haben Frauen nicht die Möglichkeit, dieselben Rechte wie Männer zu erhalten, weil sie durch das Geschlecht von der Priesterweihe ausgeschlossen sind. Trotzdem gibt es Theologinnen, die in der katholischen Kirche arbeiten und auch in der Pfarreiseelsorge Verantwortung übernehmen. Ohne die Rechte und Pflichten eines Pfarrers übernehmen sie auch die Leitung von katholischen Pfarreien. Ich habe für meine Dissertation «‹Vertrauen mit den Frauen›» (siehe unten) solche Frauen, die seit 20 bis 30 Jahren in der katholischen Kirche tätig sind, befragt und untersucht, wie sie ihren Weg in dieser Institution, in der sie diskriminiert werden, finden und wie sie zu Gemeindeleiterinnen wurden.
Aus personeller Not heraus
Die interviewten Frauen verspürten oft im Alter von etwa 50 Jahren den Wunsch, mehr Verantwortung zu übernehmen und bewarben sich für die Gemeindeleitung einer Pfarrei. Solche Leitungen durch Theologinnen und Theologen, die keine Priesterweihe haben, entstanden aus der Not heraus, da vakante Pfarrstellen durch den Rückgang der Priesterzahlen zunehmend nicht mehr mit Priestern besetzt werden konnten. Zunächst übernahmen Pastoralassistentinnen und -assistenten die Aufgaben von Vikaren, mit der Zeit wurden auch immer mehr Gemeindeleitungen an sie übergeben. Priester reisten wie Missionare in die verschiedenen Pfarreien. Als Verantwortliche und Vertrauenspersonen vor Ort fungierten die Gemeindeleitenden oder auch Pfarreibeauftragten, wie sie im Zuge der organisatorischen Veränderungen von Pfarreien genannt werden.
Für meine Dissertation habe ich 21 solche Frauen befragt. Ich wollte unter anderem wissen, welche Berufs- und Karrieremöglichkeiten es für Theologinnen in der Kirche gibt. Die Befragung hat gezeigt, dass es für die Frauen oft schwierig war, ihren Platz zu finden. Häufig arbeiteten sie in unsicheren Positionen mit unklaren Befugnissen. Die Interviews wurden anonym geführt, damit die Frauen offen über Konflikte, Enttäuschungen und Verletzungen sprechen konnten. Manche Befragten fürchteten, dass das offene Äussern von Kritik für sie berufliche Konsequenzen haben könnte. Ihre Arbeit als Seelsorgerinnen erleben sie als sinnvoll und sinnstiftend. In Pfarreiprojekten können sie kreativ das Pfarreileben mit Anlässen gestalten. In Gemeindegottesdiensten, bei Taufen und bei Beerdigungen und auch in der Gemeinschaft, wenn es gelingt, etwas zu schaffen, sei plötzlich etwas «ganz Dichtes» da, das trägt.
Schlüsselwort: Vertrauen
Dieses tragende Vertrauen zeigte sich in den Biografien der Gemeindeleiterinnen immer wieder als wichtige Ressource, sei es bei der Studienwahl, dem Berufseinstieg oder dem Entschluss, in eine Gemeindeleitung zu wechseln. Vertrauen darauf, dass es gut kommt, und das Vertrauen von Mitarbeitenden und Gemeindemitgliedern wird als wichtige Ressourcen in diesen krisenhaften Momenten genannt. Vertrauen ist auch Thema in der Seelsorge, in Trauergesprächen, bei Taufen und in der Begleitung von Menschen in Krisen. Papst Franziskus würdigte im Nachgang der Amazonassynode die Gemeindeleiterinnen, die im weitläufigen Amazonasgebiet die Kirche vor Ort aufrechterhalten.
Seit über 20 Jahren gibt es solche Frauen auch in der Schweiz, doch bisher wurden sie noch nicht befragt. Daher sind ihre Erfahrungen bis dato nicht in die Diskussion rund um Aufgabe und Rolle der Frauen in der Kirche eingeflossen. Frauen, die Kirche repräsentieren, verändern Kirchenbilder. Sie zeigen eine Kirche, die Mut für Veränderungen hat. Bei den 21 Gemeindeleiterinnen handelt es sich zwar nur um einen kleinen Ausschnitt der gesamtgesellschaftlichen Realität, doch an ihnen kann das Ringen von Frauen um ihren Platz in der Kirche, ihr Suchen in der Rolle als Theologin und Seelsorgerin aufgezeigt werden.
Noch nicht erreichte Chancengleichheit
An den Biografien der Interviewten zeigt sich, dass Gleichberechtigung, Gleichstellung und Chancengleichheit in der Kirche noch nicht umgesetzt sind. Denn eine gleichberechtigte Kirche ist eine Kirche, in der Menschen gleiche Rechte haben, unabhängig vom Geschlecht und Zivilstand. Gleichstellung würde bedeuten, dass sie die Möglichkeit hätten, dieselbe soziale Stellung zu erhalten. Chancengleichheit würde erst bestehen, wenn alle Frauen und auch Männer dieselben Möglichkeiten hinsichtlich des Zugangs zu Stipendien und beruflichen Positionen wie Priesteramtskandidaten hätten – und zwar unabhängig davon, ob sie verheiratet sind oder welches Geschlecht sie haben.
Nadja Waibel
«Vertrauen mit den Frauen». Eine biografisch-empirische Studie zu Gemeindeleiterinnen in katholischen Pfarreien der deutschsprachigen Schweiz
TVZ, Zürich 2023
Bestellung und Open-Access-Abruf
Öffentliche Buchpräsentation
Im Rahmen des Projekts «universum.», der Zwischennutzung des direkt neben dem Uni/PH-Gebäude gelegenen Inselis, wird Nadja Waibel die Erkenntnisse aus ihrer Doktorarbeit an einem für alle Interessierten kostenlos besuchbaren Anlass vorstellen. Dieser findet am 12. Juli um 18 Uhr statt. Weitere Programmpunkte sind Beiträge von Christian Preidel, Professor für Pastoraltheologie, und Claire Geyer, katholische Theologin und Kulturwissenschaftlerin. Auch wird es ein Interview mit Lorenzo Scornaienchi, reformierter Hochschulseelsorger in Luzern, geben.
Agenda-Eintrag zum Anlass
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