Man mag die Bibel als «Wort Gottes» verstehen. Vom Himmel gefallen ist sie deswegen nicht. Erläuterungen dazu aus den Bibelwissenschaften.

Mose empfängt die Gesetztafeln: Stich aus der weit verbreiteten und noch heute gerne nachgedruckten «Bibel in Bildern von Julius Schnorr von Carolsfeld» von 1860.

Mose, der auf dem Berg Sinai steht und von Gott Weisungen empfängt: Diese Szene prägt bei vielen unterschwellig das Gesamtverständnis der Bibel. Sie scheint «vom Himmel gefallen» zu sein, und zwar nicht zum Vergnügen der Menschen, sondern um ihnen vorzuschreiben, wie man leben soll. Gewisse Kreise berufen sich denn auch gerne auf die Bibel, um etwa gegen Homosexualität oder gegen die Gleichstellung von Mann und Frau anzureden. All das hat wenig mit einem akademischen Blick auf die Bibel zu tun. Auch das offizielle römisch­katholische Verständnis ist ein anderes.

Eine ganze Bibliothek

Wenn man von Bibel spricht, gilt es zuerst zu klären, wessen Bibel man meint. Im Judentum nennt man die Bibel auch Tanak (Aussprache: Tanach). Tanak ist ein aus den Konsonanten «t», «n» und «k» zusammengesetztes Kunstwort. Es umschreibt sowohl den Umfang der Buchsammlung als auch die Anordnung der Bücher innerhalb dieser Sammlung.

«T» steht für die fünf Bücher der Tora, «n» für die Bücher der Prophetie (hebräisch: nebiim) und «k» für weitere «Schriften» (hebräisch: ketuvim). Abgesehen von einigen aramäischen Passagen sind alle Tanak ­Schriften auf Hebräisch abgefasst. Auch der im Christentum etablierte Begriff Bibel verweist darauf, dass es beim «Buch der Bücher» um eine ganze Bibliothek geht. Er leitet sich vom griechischen biblía, dem Plural von biblíon («Schrift/Buch») ab. Erst über den latinisierten Begriff biblia wurde es üblich, von Bibel im Singular zu reden.

Was gehört zum Alten Testament?

Im Unterschied zum Tanak enthalten christliche Bibeln zwei grosse Buchsammlungen, traditionell Altes Testament und Neues Testament genannt. Während man sich bei Letzterem relativ einig ist, welche Schriften dazugehören, gehen die Meinungen beim Alten Testament auseinander. Das römisch­katholische Alte Testament umfasst zum Beispiel mehr Schriften als das Alte Testament der Zürcher Bibel, die sich gemäss reformierter Tradition im Umfang (aber nicht in der Anordnung der Bücher) an den Tanak hält. Bei römisch­katholischen sowie christlich­orthodoxen Bibeln kommen Texte hinzu, die im 3.–1. Jh. v. Chr. auf Griechisch verfasst wurden.

Wie jede Bibliothek enthält die Bibel Bücher aus unterschiedlichen Zeiten. Die Texte des christlichen Neuen Testaments sind ab zirka 50 n. Chr. innerhalb von rund 60 Jahren entstanden. Beim Alten Testament liegen zum Teil mehrere Jahrhunderte zwischen einzelnen Texten. Gewisse Bücher weisen eine längere interne Wachstumsgeschichte auf. Ihre Endform haben die meisten alttestamentlichen Schriften zwischen dem 6. und dem 2. Jh. v. Chr. erhalten.

Die Bibeltexte lassen sich als Reflex auf historische Kontexte verstehen und gehören unterschiedlichen Textgattungen an.
Veronika Bachmann, Lehrbeauftragte für Altes Testament und Dozentin am Religionspädagogischen Institut (RPI)

Nicht Gott, sondern zahlreiche Menschen haben die Bibeltexte geschrieben. Die Schriften lassen sich als Reflex auf historische Kontexte verstehen und gehören unterschiedlichen Textgattungen an. Neben Poesie und weisheitlicher Spruchliteratur enthält die Bibel etwa Gebete, Briefe und Erzählungen, wobei das Erzählen unterschiedliche Ziele verfolgen kann. Die vier Jesus­-Biografien, bekannt als «Evangelien», gehen weniger der Frage nach, wie Jesus von Nazaret wirklich gelebt hat, sondern bieten primär eine Deutung seines Lebens und seiner Rolle. Einige  Gattungen liegen zudem in andere verschachtelt vor, so etwa die Weisungen, die Mose und sein Volk innerhalb der grossen Erzählung vom Auszug aus Ägypten offenbart bekommen. Wer meint, es gelte sie 1:1 umzusetzen, ignoriert erstens den Erzählzusammenhang, zweitens die Frage nach Sinn und Zweck der Gesamterzählung.

Theologisieren durch Erzählen

In der Bibel nimmt das Erzählen viel Raum ein – von Menschen, ihren Nöten und Freuden, ihren Visionen und Hoffnungen, aber auch von ihrem Scheitern. Dies verbindet auch das christliche Alte und Neue Testament. Aus heutiger Perspektive mag befremdlich wirken, dass Gott meist selbstverständlich im Spiel ist: als Gegenüber, dem Ermutigendes, Kritisches, teils auch Selbstkritisches in den Mund gelegt wird, manchmal auch als Gegenüber, das schweigt und rätselhaft bleibt. Die Bibel strotzt vor dem, was man «narrative Theologie» nennt. Nicht das Auftischen von Offenbarungen ist hier der Punkt, sondern das Ringen darum, was jenseits von Scheinordnungen wahrhaftig ist und Menschen heilvoll zusammenhält. Weil dies alles nicht in Form eines Traktates geschieht, sondern in Form von Dichtung, gehören Inkohärenzen und Widersprüchlichkeiten mit dazu.

Menschlich und doch «Wort Gottes»

Im Laufe des 20. Jh. unterstrich auch die römisch­katholische Kirche, dass die Bibel nicht als vom Himmel gefallen zu verstehen ist. In der Konstitution «Dei Verbum» von 1965 heisst es: «Da Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat, muss der Schrifterklärer, um zu erfassen, was Gott uns mitteilen wollte, sorgfältig erforschen, was die heiligen Schriftsteller wirklich zu sagen beabsichtigten und was Gott mit ihren Worten kundtun wollte.» (DV 12) Eine solche Formulierung bietet Hand, das «Menschliche» der Bibeltexte anzuerkennen und dennoch am Anspruch festzuhalten, dass sie für die Glaubensgemeinschaft «Wort Gottes» sind, also eine besondere Autorität und Dignität besitzen. Die Bibelwissenschaften bauen auf dieser Einsicht auf. Zentral bleibt die Erforschung der historischen Kontexte der biblischen Bücher. Literaturwissenschaftliche Methoden helfen, die Texte fundiert als Literatur zu erschliessen. Schliesslich zeigt der Zweig der Rezeptionsgeschichte auf, wie mit Bibeltexten im Laufe der Zeit umgegangen wurde: Missbrauchte man sie immer wieder zur Legitimierung von Sklaverei und patriarchalen Strukturen, so lassen sich durchaus auch befreiend-­widerständige Traditionen des Bibellesens wiederentdecken.

Veronika Bachmann

Lehrbeauftragte für Altes Testament und Dozentin am Religionspädagogischen Institut (RPI)
unilu.ch/veronika-bachmann