Der Begriff der Digitalisierung ist eng verbunden mit Ingenieurwissenschaften und Informatik. Diese Disziplinen gibt es an der Universität Luzern allerdings nicht. Und doch gerät das Phänomen auch hier stark in den Blick – und dies schafft Mehrwert.
Daniel Speich Chassé, Digitalisierung ist ein schwammiger Begriff. Was verstehen Sie darunter?
Daniel Speich Chassé: Für mich als Historiker handelt es sich zunächst nur um eine aktuelle Bezeichnung für den technischen Wandel, also für etwas, das es schon lange gibt. Noch vor etwa zwanzig Jahren sprach man von der «Informationsgesellschaft» und noch früher von «Automatisierung». Dahinter verbirgt sich die oft fast undurchschaubare Wechselwirkung zwischen technischen Innovationen und dem Wandel von Gesellschaften.
Sophie Mützel, heisst das, dass Digitalisierung nicht einfach nur neue Technologien umfasst?
Sophie Mützel: Ich besuchte Anfang September die nationale Konferenz «Digitale Schweiz 2019». Dort war eine wichtige Nachricht der von auswärts geladenen Expertinnen und Experten, dass sich die Entwicklung von innovativen digitalen Technologien aktuell auf gutem Weg befinde, gerade in der Schweiz. Weitaus weniger gut sieht es damit aus, den digitalen Technologien Ziele zu geben, die nicht Profit im Blick haben, sondern helfen, die Probleme der Welt – Klimaerwärmung, Migration, Ungleichheit, demokratische Entscheidungsfindung etc. – zu lösen.
Sie beide leiten den neu lancierten Schwerpunkt «Digitalisierung» in der Lehre der Kulturund Sozialwissenschaftlichen Fakultät (siehe Box unten). Inwiefern können denn die hier beheimateten Disziplinen einen Beitrag leisten?
Mützel: Die Sozial- und Geisteswissenschaften haben sich die letzten Jahrhunderte genau mit solchen Problemen und deren Lösungen beschäftigt. Wir haben nicht alle Antworten auf alle wichtigen Fragen, aber wir können aufbauend auf Vergangenem helfen, Lösungen zu finden.
Speich: Wir sind konfrontiert mit einem grossen sozialen Wandel. Der Diskurs, der dazu geführt wird, geht stark von Ingenieurinnen oder Programmierern aus; im Fokus stehen grösstenteils neue Produkte, die man auf den Markt bringen kann. Doch es gibt auch eine andere Dimension: nicht-technische Möglichkeiten der Weiterentwicklung unserer Gesellschaft. Informationstechnologien gibt es im Übrigen schon lange, wenn ich hier anknüpfen darf. Nehmen wir zum Beispiel «Big Data»: Schon im 19. Jahrhundert wurden in der Erdvermessung, bei der Klimabeobachtung oder natürlich in der Sozialstatistik gigantische Datenmengen gesammelt. Wir haben einen reichen Schatz an Erfahrung in diesem Zusammenhang, der mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen besser genutzt werden könnte.
Wie sieht das aus, wenn ich Historikerin respektive Geschichtsstudent bin?
Konkret könnte Ihnen die Beschäftigung mit früheren Datentechniken helfen, einige Grundprobleme besser zu verstehen. Eine Schwierigkeit beim Datensammeln ist immer die Definition von einheitlichen Kategorien gewesen. Wer sich mit der historischen Erfahrung befasst, sieht sofort, dass es keine Daten ohne Theorie, keine Statistik ohne Werturteile geben kann. Das ist heute nicht anders.
Sind also auch Daten nicht einfach nur Daten?
Ja, denn es ist geradezu absurd, wenn Big-Data-Euphoriker behaupten, grosse Datenmengen würden die Theorie ersetzen, weil sie die Welt quasi 1:1 abbilden. Das tun sie eben gerade nicht, sondern stecken immer voller Vorannahmen. Wer aus Big Data stabile und zuverlässige Einsichten gewinnen will, muss unbedingt wissen, nach welchen Kriterien diese Daten zustande gekommen sind, wie sie weiterverarbeitet und ausgewertet werden.
Was braucht es, um diese Herausforderung zu meistern?
Mützel: Einerseits Kompetenzen in der Datenerhebung, -verarbeitung und -auswertung sowie auch bei der Visualisierung von Daten. Andererseits muss man grundlegende Prinzipien algorithmischer Verfahren beziehungsweise des Maschinellen Lernens kennen. Bei allem Fokus auf Daten und den methodischen Kompetenzen zur Auswertung sind, wie Daniel Speich es eben ansprach, andererseits natürlich Theorien und Konzepte über die Strukturiertheit des Sozialen sehr wichtig, damit Ergebnisse von Datenauswertungen auch erkenntnisbringend interpretiert werden können.
Wie hat die Digitalisierung die Studieninhalte verändert?
Speich: Früher ging es um die Vermittlung von Inhalten, heute um Reflexionskompetenz. Da sind unsere Fächer traditionell stark und sie müssen mit der Digitalisierung keineswegs neu erfunden werden. Allerdings spielen technische Geräte, deren Funktionsweise kein Mensch wirklich versteht, überall eine wachsende Rolle. Es gibt immer mehr verschiedene Medientechniken, die alle ihre eigene Logik haben. Grundkenntnisse des soziotechnischen Wandels und der Arbeit mit verschiedenen Quellenformen gehören deshalb zum Gepäck.
Unser Ziel ist, dass alle unsere Studierenden ganz selbstverständlich mit Digitalisierungsprozessen umgehen, konkret mit Daten arbeiten, aber auch Prozesse, Risiken und Chancen einordnen können.
… und welche Ziele verfolgen Sie mit Ihrem Lehrangebot?
Mützel: Unser Ziel ist, dass alle unsere Studierenden ganz selbstverständlich mit Digitalisierungsprozessen umgehen, konkret mit Daten arbeiten, aber auch Prozesse, Risiken und Chancen einordnen können. Und es ist kein Zufall, dass grosse Tech-Unternehmen vermehrt Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler einstellen. Denn diese sind gute «Übersetzer» und Brückenbauerinnen, die in Schnittstellenpositionen, etwa zwischen der Entwicklung und dem Marketing, verschiedene Perspektiven und Berufswelten verstehen und verbinden können.
Welche Fragen verfolgen Sie mit Ihren Forschungsvorhaben, Daniel Speich?
Speich: Ich beforsche die Geschichte der Verwandlung der Welt in Zahlen seit den Anfängen der modernen Statistik vor etwa 300 Jahren. Mich interessieren die Verfahren zum Sammeln von Daten und die frühen Suchmaschinen bei ihrer Auswertung. Was wir heute als Computer bezeichnen, ist keine revolutionäre Neuerung, sondern das jüngste Kapitel in einem langen Prozess. Zu dessen Einführung entwerfe ich gerade ein neues Projekt, von dem ich mir Erkenntnisse verspreche, die auf den völlig unerwarteten Erfolg der Smartphones in den letzten zehn Jahren übertragbar sein könnten und vielleicht sogar auf die Zukunft der Tech-Branche.
Welche Themen beschäftigen Sie in Ihrer Forschung, Sophie Mützel?
Mützel: Zum einen damit, wie grosse und unstrukturierte Mengen Texte, Bilder, Filme, Emojis etc. in der soziologischen Methodenausbildung einen Platz finden. Dazu erforschen ein Team von Doktorierenden und ich im Rahmen eines vom Bund geförderten Projekts die neuen Felder der Datenwissenschaften, des Datenjournalismus und auch wie sich die Soziologie als Disziplin selbst mit diesen Herausforderungen auseinandersetzt. Zum anderen beschäftige ich mich aktuell mit solchen Aspekten der Digitalisierung, die sich langsam, aber sicher in unseren Alltag schleichen, wie zum Beispiel Veränderungen von Bezahlsystemen.
Ist es aus Ihrer Sicht also selbstverständlich, dass sich Ihre Fakultät mit der Digitalisierung so intensiv beschäftigt?
Ja, absolut. Jede Disziplin und darüber hinaus auch jede Fakultät auf ihre Weise. Das stösst im Übrigen auch auf grosse Resonanz bei unseren Studierenden. Zum Beispiel sind sie, was die Anwendung von sozialen Medien angeht, Profis. Wenn man darauf nun eine wissenschaftliche Perspektive legt, ist das herausfordernd, aber sie tun es gerne und profitieren stark.
Speich: Ja, denn die Digitalisierung betrifft uns alle, und es wäre ein Fehler, sie einfach an Ingenieurinnen und Ingenieure abzugeben. Schliesslich geht es um mehr als eine einzelne App, die auf den Markt kommt. Die Kultur- und Sozialwissenschaftliche Fakultät ist Spezialistin für Alltagsfragen, wir beobachten und begleiten den sozialen Wandel. Und damit auch die Digitalisierung.
Schwerpunkt in der Lehre
An der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät haben Studierende die Möglichkeit, sich aus den jeweiligen Fachperspektiven Expertise zur digitalen Transformation anzueignen. Dazu bieten verschiedene Lehrbereiche einführende und vertiefende Lehrveranstaltungen sowohl zur Reflexion der digitalen Transformation als auch zur Analyse von digitalen Daten an. Auf das aktuelle Semester hin wurde ein entsprechender, von Sophie Mützel und Daniel Speich Chassé (siehe Interview) geleiteter Schwerpunkt lanciert. Aktuell finden 18 Lehrveranstaltungen zur Thematik statt. Im November wurde zudem die Eröffnungskonferenz zum Lucerne Master in Computational Social Sciences (LUMACSS) durchgeführt. Der Studiengang wurde neu lanciert und kombiniert Sozial-und rechnergestützte Wissenschaften.
Auch an den anderen Fakultäten wird der Digitalisierung in der Lehre entsprechend Rechnung getragen. In der Rechtswissenschaft befasst sich eine Reihe von Lehrveranstaltungen mit deren Aspekten (unter anderem «Blockchain und Smart Contracts» und «Copyright in the Digital Age»), auch verändern sich die Unterrichts- und Prüfungstechniken. So gibt es vereinzelt Podcasts, und es werden zunehmend Prüfungen auf iPads abgelegt. Zu neuen Technologien greift beim Anbieten des Fernstudiums auch die Theologische Fakultät. Mit den ethischen Aspekten der Digitalisierung befasst sich Peter G. Kirchschläger, Professor für Theologische Ethik («Fokus»-Interview in «cogito»-Ausgabe 1). In den Wirtschaftswissenschaften werden einerseits Kompetenzen für die Anwendung von Methoden und Technologien vermittelt: Studierende lernen das Handwerkszeug für die Arbeit mit Datenbanken, für Website-Scraping und Datenvisualisierung wie auch für die Anwendung von Machine-Learning-Ansätzen. Betriebswirtschaftliche Ansätze befassen sich andererseits mit den Implikationen der Digitalisierung und deren Technologien für Unternehmensstrategien und -prozesse. Im Marketing beispielsweise werden dabei Chancen und Risiken der Digitalisierung bezüglich Vertriebskanälen, Informationsbeschaffung und dem Kaufverhalten behandelt. (red.)