Die Realisierung eines aufwendigen, nicht obligatorischen Projekts an der Uni: Das konnte sich Studentin Eliane Ruesch zunächst nicht vorstellen. Aber irgendwie rutschte sie hinein und findet rückblickend: Es hat sich gelohnt! Ein «Tourenbericht».
Wer kennt das Gefühl, von sich selbst überrascht zu sein? Etwa, wenn man auf einem Berggipfel steht und den Sonnenaufgang betrachtet, obwohl man sonst niemals um vier Uhr aufstehen und im Dunkeln irgendwo hochwandern würde. Es kommt die Frage auf: Wie und weshalb habe ich das getan? Eine Motivation dafür könnte der spektakuläre Sonnenaufgang sein, den man schon immer einmal erleben wollte. Aber dies ist zu naheliegend und liesse auf dem Gipfel eben nicht die Frage offen, wie es dazu gekommen ist.
Vielleicht denkt man zunächst, man gehe auf einen gewöhnlichen Spaziergang, nur «ums Eck». Doch während des Spazierens kommt die Idee für eine neue Destination auf. Zuerst ist man kritisch. Aber das Versprechen einer grandiosen Aussicht macht neugierig. Zudem will man den Wandergefährten und der Bergführerin nicht absagen. Insgeheim denkt man: «Allzu anstrengend wird es schon nicht werden.» Doch plötzlich ist man mitten im Aufstieg und es ist zu spät, wieder umzukehren.
Vom Spaziergang zur (Nacht-)Wanderung
Mein «Spaziergang» war die Teilnahme an der von Nadine Arnold, Oberassistentin am Soziologischen Seminar, geleiteten Lehrveranstaltung «Food (waste) qualitativ erforschen» im Herbstsemester 2018. Ich hatte schon viele Seminare besucht und dachte, ich kennte den Weg und könne die Anstrengung einschätzen. Zur Wanderung wurde der Spaziergang, als der Entscheid fiel, im Rahmen dieses Seminars eine Posterausstellung zum Thema zu gestalten. Zu den Standorten zählten die Universität, die Hochschule und das Natur-Museum Luzern.
Doch schleichend wurde die Wanderung härter, als das Projekt wuchs und nicht bei der Ausstellung blieb. Gemeinsam wurde beschlossen, einen Sammelband mit studentischen Aufsätzen zu realisieren. Plötzlich fand ich mich auf einer definitiv herausfordernden Nachtwanderung wieder. Es galt, bei verschiedenen Stellen Anträge für die Finanzierung einzureichen, und natürlich musste mein Aufsatz auf Papier. Der Titel des schliesslich entstandenen Beitrags: «Plattform versus Lebensmitteltafel. Wie die Plattform die Verteilung von Lebensmittelüberschüssen verändert».
Entstehung neuer digitaler Märkte
Tafeln sind lokal stark verankert, relativ träge bei der Ausdehnung ihrer Tätigkeiten und karitativ motiviert, indem sie Bedürftige mit Nahrung versorgen. Plattformen sind nahezu ungebunden, können schnell wachsen, und es wird eine Vermittlungsgebühr erhoben. Über eine digitale Infrastruktur (zum Beispiel eine Smartphone-App) verkuppelt die Plattform interessierte Konsumenten und Lebensmittelläden. Erstere retten gerne für einen reduzierten Preis Lebensmittelüberschüsse vor dem Ab fall, Letztere stärken ihr Image als umweltbewusste Unternehmen. Es zeigt sich, dass sich das Verteilen von Lebensmittelüberschüssen im Zuge des Aufkommens von Plattformen so verändert, dass dieses nicht mehr nur noch karitativ motiviert ist, sondern auch die Grundlage für die Entstehung von neuen digitalen Märkten liefert.
Ende Februar 2021 gipfelt das Projekt – unsere «Nachtwanderung», um die Metapher wieder auf zunehmen – im Sonnenaufgang: Dann erscheint das Buch «Wenn Food Waste sichtbar wird» beim transcript-Verlag. Es wird neben einem Vorwort von Professor Raimund Hasse, Leiter des Soziologischen Seminars Luzern, einen Aufsatz von Herausgeberin Nadine Arnold und zehn studentische Beiträge enthalten. Die thematische Vielfalt ist breit und reicht von der Analyse von Food-Waste-Management im Supermarkt über die Verstromung von Lebensmitteln bis zu einem historischen Blick in Kochbücher.