Ab wann besteht bei Flugverspätungen ein Anspruch auf eine Entschädigung? Und wie kommt man zu dieser? Die derzeitige Situation zeigt, dass im Bereich der Fluggast-Reiserechte eine weitere Entwicklung durch Gesetze und Rechtsprechung Not tut.
Flughafen Zürich im April dieses Jahres: Mit meinem digitalen Boardingpass checke ich ein. In zwei Stunden soll meine Maschine nach Amsterdam fliegen. Ich nutze die Zeit, um im Wartebereich einen Text korrekturzulesen; auf der Anzeigetafel ist mein Flug mit der gleichen Uhrzeit wie auf meinem Boardingspass vermerkt. Mein Handy brummt, eine SMS meiner Airline kommt rein und ich lese, dass mein Flug verspätet ist. Neue Abflugzeit: 1 Stunde und 10 Minuten später. Auf der Anzeigetafel ist diese Verspätung noch nicht vermerkt. Dort erscheint sie erst fünfzehn Minuten später. Während die Flugzeit auf der Website des Flughafens noch immer nicht angepasst ist, steht auf der Website der Airline bereits, dass der Flug mehr als 2 Stunden Verspätung haben werde.
Extra-Flugzeit bereits eingerechnet
Ich harre der Dinge und lese weiter. Nach 2 Stunden und 35 Minuten Verspätung ist es endlich Zeit zum Einchecken. Man merkt schon eine gewisse Ungeduld beim sehr freundlichen Flugpersonal. Schnell gehen die Türen zu. Und nach Freigabe der Startbahn sind wir auch schon in der Luft. Mittlerweile ist die Verspätung auf 3 Stunden und 5 Minuten gegenüber der geplanten Startzeit angewachsen. Die Reisedauer wurde von der Airline mit 1 Stunde und 20 Minuten sehr grosszügig berechnet. Die Windverhältnisse sind normal, die reguläre Flugzeit beträgt 1 Stunde. Mit der Extrazeit schützt die Airline sich im Verspätungsfall. Mit einer Verspätung von 2 Stunden und 45 Minuten landen wir in Amsterdam, allerdings muss das Flugzeug nun noch von der sogenannten Polderbaan bis hin zum Hauptgebäude fahren. Nach 2 Stunden und 55 Minuten hören wir den Kapitän sagen: «Doors may be opened.» Nach 2 Stunden und 56 Minuten geht die Flugzeugtür auf. Ich sass in Reihe 23 und kam erst nach über 3 Stunden aus dem Flugzeug.
Es gibt Gerichtsentscheide des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), in denen steht, dass ab einer Ankunftsverspätung am Zielort von mindestens 3 Stunden eventuell ein Anspruch auf eine Ausgleichszahlung besteht. Hätte ich wohl eine Chance auf eine Entschädigung? Wann liegt eine dreistündige Verspätung vor? Dafür bedarf es der Rechtsprechung; so stellte der Europäische Gerichtshof (C 452/13) fest, dass die drei Stunden anhand des Öffnens mindestens einer Flugzeugtür und der Möglichkeit des Verlassens des Flugzeugs durch eine erste Passagierin, einen ersten Passagier zu bestimmen sind. Das war in meinem Fall unter drei Stunden, auch wenn ich selber aufgrund meines Sitzplatzes in einer der hinteren Reihen erst viel später aussteigen konnte. Somit stand mir kein Anspruch auf Entschädigung zu, obgleich ich de facto erst nach über drei Stunden in der Lage war, das Flugzeug zu verlassen
Oft kommen nur standardisierte E-Mails zurück, aber eine Überweisung des Geldes bleibt aus.
Nehmen wir nun einmal an, dass ich drei Stunden Verspätung gehabt hätte und mir eventuell ein Recht auf eine Ausgleichszahlung zugestanden hätte. Was hätte ich dann tun müssen? Angenehm wäre es schon, nach einer langen Reise, die mit viel Verspätung einherging, zumindest finanziell entschädigt zu werden. In der Praxis ist es recht schwierig, tatsächlich eine Entschädigung zu erhalten. Die Airlines arbeiten nicht wirklich mit, meist gibt es keine einfach auszufüllenden Formulare, sondern es wird erwartet, dass die Reisenden ihre schriftliche Beschwerde selber einreichen. Oft kommen dann nur standardisierte E-Mails zurück, aber eine Überweisung des Geldes bleibt aus.
Aus diesem Grund haben sich viele private Anbieter gefunden, die für den Reisenden die Schadenssummen einfordern. Das erscheint sehr angenehm, einem anderen alle Formulare, Reisebelege und Buchungsbedingungen vorzulegen und ihm die Arbeit zu überlassen. Für diese Hilfestellung werden zwischen 25 und 35 Prozent der Summe zuzüglich Mehrwertsteuer, die im Erfolgsfall ausgezahlt wird, von dem jeweiligen Anbieter einbehalten. Auf den ersten Blick scheint das ein faires Angebot und zeigt, dass der Markt sich selbst reguliert und neuen Dienstleistungen einen Raum bietet. Allerdings müssen wir uns die Frage stellen, was der Gedanke von Verbraucherschutz und der Zweck von Fluggast-Rechten ist. Sollte eine Verbraucherin, ein Verbraucher nicht selbstständig oder freiwillig zusammengeschlossen im Rahmen einer Verbraucherschutzvereinigung agieren können?
Reisende in passive Rolle versetzt
Verbraucherschutz hat als Ziel, dass Verbraucherinnen und Verbraucher durch gute Informationen mündig sind und proaktiv auftreten, eigenständig Entscheidungen treffen und sich selbst um ihre Rechte kümmern können. Finanzielle Entschädigungen sollten ihnen ganz zugutekommen und nicht mit Dienstleistern geteilt werden müssen, die eine Marktlücke füllen, die durch unzureichende Gesetze entstanden ist. Der Reisende wird durch die Intervention der Dienstleister, die sich um die
Auszahlung der Ausgleichssummen im Fall einer Verspätung kümmern, in eine passive Rolle versetzt und ist nicht der selbstständig agierende Vertragspartner des Reisebüros oder der Airline. Im Ergebnis führt das dazu, dass der Verbraucher nicht die Summe erhält, die ihm zukommen könnte. Das ist nicht der Gedanke eines umfassenden Verbraucherschutzes. Das Dazwischentreten externer Dienstleister zeigt, dass es einer weiteren Entwicklung durch Gesetze und Rechtsprechung im Bereich der Fluggast-Reiserechte bedarf. Die bisherige Rechtslage ist nur bedingt erfolgreich und bietet dem individuellen Verbraucher nicht den Schutz, den man sich erhofft. Übrigens ist die Rechtslage wieder ganz anders, wenn statt Personen Güter befördert werden. Das ist genau der Forschungsschwerpunkt der Kompetenzstelle für Logistik und Transport (KOLT) an der Universität Luzern, an der ich seit zwei Jahren arbeite.