Das neu geschaffene Institut Wirtschaft und Regulierung sorgt im Dschungel von Vorschriften und Sanktionen für mehr Durchblick. Denn neue Technologien und ein globalisierter Markt erfordern andere Arten von Regulierungen. Die Rolle des Staates muss dabei völlig neu definiert werden.
Malte Gruber, Nicolas Diebold, wozu braucht es das von Ihnen geleitete Institut?
Nicolas Diebold: Wir glauben, dass die Forschung den Bereich Wirtschaft und Regulierung in dieser Breite noch nicht abdeckt. Der Fokus liegt in der Regel auf einem einzigen Wirtschaftssektor, wie dem Finanzmarktrecht. Oder einem Rechtsgebiet, etwa dem Kartellrecht. Da versuchen wir eine breitere Betrachtung einzubringen, um die Zusammenhänge zwischen Rechtsgebieten und Sektorenregulierungen zu erkennen. Das Wirtschaftsrecht wird immer komplexer, sodass die Tendenz besteht, dass man sich spezialisiert, sei es im Gesellschafts-, Kartell-, Finanz- oder im Telekommunikationsrecht. Alle diese Bereiche haben einen Zusammenhang, den verliert man zuweilen aus den Augen. Mit diesem Institut verbinden wir 15 Lehrstühle der Rechtswissenschaftlichen Fakultät miteinander und bilden eine Plattform für mehr Zusammenarbeit innerhalb der Fakultät (siehe Box unten).
Was genau ist eigentlich mit Regulierung gemeint?
Diebold: Mit der Regulierung versucht der Staat, gewisse öffentliche Interessen zu verwirklichen – wie Sicherheit, Nachhaltigkeit, Konsumentenschutz, Wettbewerb usw. –, indem er das Verhalten der Unternehmen und Konsumenten zu steuern und zu beeinflussen versucht.
Malte Gruber: Es ist nicht zwingend nur staatliche Regulierung gemeint, es geht auch um Selbstregulierungen in der Wirtschaft. Das beziehen wir mit ein, und damit kommen auch andere Disziplinen mit hinein, unter anderem die Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaft. Dass der Staat alles über Regulierungen steuert, ist letztlich eine Fiktion; es ist keine vollständige Kontrolle möglich. Es gibt andere Regulierungskonzepte, etwa solche, die darauf abzielen, dass die Kräfte sich selbst regulieren würden – aber auch das ist eine Fiktion. Es gibt verschiedene Modelle, wie man sich die Rolle des Rechts in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen vorstellt. Und da setzt unsere Forschung an.
Gibt damit der Staat nicht auch Macht ab?
Gruber: Das ist so, er delegiert einen grossen Teil der Regelsetzung an Private. Diese stellen Normen auf, die mitunter nicht mehr demokratisch legitimiert sind. Es stellt sich dann zum Beispiel die Frage, ob die Branche dadurch versucht, sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen, indem sie etwa den Markt abschottet. Dies kann sie durch eigene Regelsetzung erreichen, indem sie die Anforderungen so setzt, dass neue Konkurrenten nicht in den Markt eintreten können. Daraus ergeben sich spannende Forschungsfragen.
Diebold: Im Lebensmittelbereich zum Beispiel hat die Schweiz aus der EU den «New and Global Approach» anstelle des Systems der staatlichen Bewilligung eingeführt. Nun müssen die Unternehmen gewährleisten, dass neue Produkte die Mindestanforderungen erfüllen. Der Staat definiert Mindestanforderungen – beispielsweise dürfen die Produkte die Gesundheit nicht beeinträchtigen. Wie dieses Ziel erreicht wird, sagt nicht mehr der Staat, weil er das Know-how gar nicht hat. Deshalb wird die Regulierung an Private, zum Beispiel Normsetzungsorganisationen oder Branchenverbände, delegiert.
Wie gehen Sie vor, welche Methoden gelangen zur Anwendung?
Gruber: Ein wichtiger Punkt diesbezüglich ist, dass wir uns für gesellschaftliche und wirtschaftliche Fragen öffnen wollen. Natürlich spielen die juristischen Probleme, die Anwendungsschwierigkeiten und die Schwierigkeit, dass sich das Fach so zersplittert hat und wir die Spezialgebiete auffangen wollen, eine wichtige Rolle. Zudem gibt es eine Vielzahl von Methoden, die wir anwenden werden: Empirik, ökonomische Analyse, normative Auseinandersetzungen.
Diebold: Auslöser für eine Fragestellung können verschiedene Bereiche sein. Etwa ein Gesetzgebungsprojekt oder ein Volksbegehren wie die Konzernverantwortungsinitiative. Wir schauen das Projekt an, überlegen, ob es der richtige Weg ist, ob es andere Möglichkeiten gäbe, dieses Ziel zu erreichen, die je nachdem besser wären. Was sind die Nebenwirkungen oder wie passt diese Lösung in das Gesamtsystem des Rechts? Das sind Fragen, mit denen wir arbeiten.
Es stellt sich vermehrt die Frage, inwiefern die Verantwortung der Konzerne derjenigen der Staaten gleicht.
Nehmen wir als Beispiel gleich die Konzernverantwortungsinitiative. Diese verlangt, dass Schweizer Unternehmen für Grundrechtsverletzungen im Ausland verantwortlich gemacht werden können. Wo setzen Sie hier die Forschung an?
Gruber: Es stellt sich vermehrt die Frage, inwiefern die Verantwortung der Konzerne derjenigen der Staaten gleicht. Sind sie zum Beispiel grundrechtspflichtig gegenüber Menschen in anderen Regionen der Welt, wo die Firma aktiv ist? Sind sie verantwortlich für ihre Zulieferer, die unter grundrechtswidrigen Bedingungen – Stichwort Kinderarbeit – Mitarbeitende beschäftigen?
Diebold: Die Frage, die sich aus Regulierungsperspektive stellt, ist: Braucht es eine Regulierung oder schafft es der Markt selbst? Gibt es Marktanreize, dass multinationale Unternehmen Mindeststandards einhalten? Wenn nicht, kann man sich fragen, ob es Selbstregulierungsmöglichkeiten unter den Unternehmen gibt. Wenn das auch versagt, braucht es eine rechtliche Regulierung, um dieses öffentliche Interesse durchzusetzen. Die nächste Frage wäre dann, wie weit die Schweiz die Durchsetzung dieser Interessen überhaupt zu verwirklichen vermag. Kann sie überhaupt unilateral regulieren, und wie? Im Moment versucht man das über die Haftung der Unternehmen durchzusetzen.
Es gibt heute viele Regulierungen, die zum Teil auch einengend wirken. Wie sinnvoll ist diese Vielzahl?
Diebold: Es geht darum, genauer hinzuschauen, zu hinterfragen und auch Forschungsergebnisse zu liefern, die für die weitere Entwicklung von Regulierungsfragen von Nutzen sind. Es gibt unzählige Regulierungen, die aus dem EU-Recht beeinflusst sind. Andererseits muss man sich von Steuerungsillusionen des Staates entfernen. Weil man merkt, dass Regulierungen oft andere Wirkungen haben als ursprünglich bezweckt. Das klassische Bild des regulierenden Staates entfällt so nach und nach.
Regulierungen haben oft andere Wirkungen als ursprünglich bezweckt. Das klassische Bild des regulierenden Staates entfällt so nach und nach.
Und wie kann man Dinge regulieren, von denen man heute noch nicht weiss, was morgen passieren wird – etwa wie bei der Gentechnik?
Gruber: Wir haben schlichtweg nicht die Möglichkeit, über die Zukunft eine Aussage zu treffen, also können wir sie weder pauschal erlauben noch verbieten. Wir müssen Verfahren erarbeiten, um auf neue Entwicklungen Einfluss nehmen zu können. Auch werden wir global funktionierende Unternehmen wie Google oder Facebook nicht mehr mit einzelstaatlichen Massnahmen in den Griff bekommen. Der Staat stösst hier in der Regulierung an seine Grenzen, weil er mit der Technisierung nicht Schritt halten kann. Die Gesetzgebungsverfahren sind zu langwierig.
Sie möchten Regulierungen ganzheitlicher anschauen. Ein Beispiel ist die Verfolgung von Submissionskartellen, bei der verschiedene Behörden aktiv sind.
Diebold: Genau. Da hatten wir kürzlich eine Tagung dazu. Wenn sich die Unternehmen im Rahmen einer öffentlichen Ausschreibung absprechen, ist das ein Verstoss gegen das Kartellrecht. Die Wettbewerbskommission untersucht und sanktioniert. Im öffentlichen Beschaffungsrecht gibt es auch Sanktionen gegen Submissionskartelle. Also haben wir bereits zwei Behörden, die das gleiche Verhalten sanktionieren können. Das geschädigte Gemeinwesen kann zudem eine Zivilklage auf Schadenersatz einreichen. Möglicherweise haben wir noch Straftatbestände, die erfüllt sind, bei der dann die Staatsanwaltschaft zuständig ist. Vier Zuständigkeiten, vier Verfahren, vier Rechtsfolgen – wie das alles untereinander funktionieren soll, ist eigentlich ziemlich offen. Eine komplexe rechtliche Ausgangslage, aber das Endziel ist ja eigentlich, dass es weniger Submissionskartelle gibt. Nun kann man sich fragen, ob die Regulierung, wie sie aufgebaut ist, dieses Ziel wirklich am effizientesten erreicht.
Gruber: Und da sehen wir unsere Rolle: Ein Auslegeordnung zu machen, zu analysieren und zu fragen, ob das tauglich ist, wie es funktioniert und ob es einfachere Wege gibt, diese Ziele zu erreichen.
Welche Wirkung hat Ihre Forschung?
Diebold: Sie kann in einem wissenschaftlichen Aufsatz münden, einem Lehrbuch oder einem Vorlesungsskript. Oder wir führen eine Tagung durch. Natürlich können unsere Ergebnisse in die Ausarbeitung neuer Gesetze einfliessen.
Gruber: Und gerade in diesem letzten Punkt zeigt sich wieder, dass der Staat als Regulierungsinstanz keineswegs obsolet wird. Aber seine Möglichkeiten und Abhängigkeiten sind heute eben andere, und seine Mittel – vor allem die Gesetzgebung und die Rechtsanwendung – sind daran auszurichten. Dazu möchten wir mit unserer Arbeit beitragen.
Institut mit Querbezügen
Das Institut für Wirtschaft und Regulierung (WiRe) bringt Forschung und Lehre unterschiedlicher Rechtsgebiete im Bereich des Wirtschaftsrechts zusammen. Im Finanzmarkt, in den Bereichen Energie, Verkehr, Telekommunikation, Agrar- und Ernährungswirtschaft stellen sich komplexe Fragen der Regulierung, dabei geht es um Compliance-Anforderungen an Unternehmen, globale digitale Märkte und Plattformindustrien (Google, Facebook, Uber, Airbnb u.a.), den Schutz von Daten und Wettbewerb, die Förderung von KMU oder die Ausgestaltung der Handelsbeziehungen mit der EU und anderen Handelspartnern. Dem an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät angesiedelten WiRe sind rund 30 Professorinnen und Professoren, Postdocs und Doktorierende angeschlossen, die sich mit der Thematik befassen. Das Institut ermöglicht interdisziplinäre Forschung und Lehre mit Querbezügen über die Grenzen der klassischen Rechtsgebiete hinaus. (rb.)
unilu.ch/wire / Bericht über den Gründungsanlass des Instituts