Aram Mattioli tritt per 1. August in den Ruhestand. Mit dem Ordinarius für Geschichte verlässt ein innovativer Forscher und beliebter Dozent die Uni, der sowohl sein Fachgebiet als auch die Universität Luzern als Institution vorangebracht hat.

Aram Mattioli
Aram Mattioli ist seit 25 Jahren ordentlicher Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Neueste Zeit an der Universität Luzern. (Bild: © Dominik Wunderli / Luzerner Zeitung)

Mattioli war keine 40 Jahre alt, als er 1999 Ordinarius für Geschichte an der Universität Luzern wurde, die es damals noch nicht gab. Zusammen mit Guy Marchal baute er in der Folge nicht nur das Historische Seminar auf und die Fakultät für Kultur- und Sozialwissenschaften (KSF), sondern mithin die Universität Luzern. Ohne seine unermüdliche und umsichtige Tätigkeit auch als Dekan stünde das tertiäre Bildungswesen der Zentralschweiz nicht dort, wo es heute steht. Wie die Kultur- und Sozialwissenschaftliche Fakultät eine Inkubatorin der Uni Luzern war, weil aus ihr die heutigen Fakultäten für Wirtschafts-  sowie Gesundheitswissenschaften und Medizin hervorgingen, wirkte Aram Mattioli als ein Inkubator der KSF.

Fokus auf den akademischen Inhalten

Seine institutionelle Wirkung war kaum vorauszusehen. Er hat sie nie gesucht, sondern stets einfach das getan, was notwendig schien, um den Hochschulplatz Luzern seriös zu positionieren. Mattiolis Fokus lag und liegt auf den Inhalten der akademischen Arbeit in der Forschung und in der Lehre. Er studierte Geschichte und Philosophie in Basel, wo er mit einer Arbeit promovierte, die 1994 unter dem Titel «Gonzague de Reynold und die Tradition der autoritären Rechten in der Schweiz» erschien. Es folgte die Tätigkeit am Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich, die Assistenz an der Universität Luzern, Forschungsaufenthalte unter anderem an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg und die Habilitation. Sein Interesse galt zunächst der «histoire intellectuelle» sowie der Geschichte des Antisemitismus in der Schweiz, in Italien und in Deutschland. Seine Studie «Jacob Burckhardt und die Grenzen der Humanität» (Wien 2001) sowie zahlreiche Sammelbände, die er mit verschiedenen Kolleginnen und Kollegen herausgab, belegen dies.

Ich begegnete Aram Mattioli zum ersten Mal 1996 über sein Buch «Intellektuelle von rechts: Ideologie und Politik in der Schweiz 1918 – 1939». Intellektuelle von rechts? In meinem damaligen Weltbild als Student war Intellektualität gleichbedeutend mit einer links-politischen Position. Das Buch erweiterte meinen Horizont – so wie es alle Bücher von ihm seither tun. Er hat einmal gesagt, er schreibe im Grunde immer wieder das gleiche Buch. Doch was könnte ein gemeinsamer Nenner sein von Studien über Schweizer Konservative, über den italienischen Faschismus, über den Abessinienkrieg, über Kolonialgeschichte und über die First Nations in den USA seit dem 17. Jahrhundert? Gewiss Innovativität.

Fernab ausgetretener Pfade

Als Aram Mattioli Anfang der 1990er-Jahre die rechtskonservative Schweiz des frühen 20. Jahrhunderts in den Blick nahm, war das im Mainstream der Geschichtsforschung ein untergeordnetes Thema. Die Geistesgeschichte galt damals wenig, als grad alle Kolleginnen und Kollegen auf Alltagspraktiken zu schauen begannen. Niemand interessierte sich für politisch rechtsstehende Intellektuelle. Aber Gonzague de Reynold ist eine wichtige Figur für die Schweiz und für die Idee der Europäischen Integration. Als Nächstes kam der Faschismus auf die Agenda von Mattioli. Fast die gesamte deutsche Geschichtswissenschaft beschäftigte sich mit Hitler und der NSDAP. Nicht so er. Vielleicht motiviert durch seine familiäre Tradition im Antifaschismus begann er, die Modernität von Mussolini zu erforschen, mit besonderem Augenmerk auf Architektur und Film. Der nächste Schritt war dann das Interesse für die Kolonialgeschichte – lange bevor die Community der Historikerinnen und Historiker eine «New Imperial History» erfand. Mattiolis Buch «Experimentierfeld der Gewalt» über den Angriffskrieg des faschistischen Italiens gegen Abessinien erschien 2005.

Er hat früh erkannt, dass die multimediale Gesellschaft, in der wir leben, nicht nur klassische Schriftquellen hinterlässt.

Stets von Neugier getrieben, und immer einen Schritt vor der modischen Welle machte er «Globalgeschichte», bevor es dieses Konzept gab. Er wendete sich den USA zu und fokussierte auf den Ethnozid an den First Nations. Zwei gewichtige Bücher sind in den letzten Jahren aus seiner Feder erschienen: «Verlorene Welten. Eine Geschichte der Indianer Nordamerikas 1700 – 1910» im Jahr 2018 und «Zeiten der Auflehnung. Eine Geschichte des indigenen Widerstandes in den USA 1911 – 1992» im Jahr 2023. Aus diesen Studien hat sich ein weiteres Forschungsinteresse zum «environmental racism» ergeben. Aram Mattiolis nächstes Buch wird vermutlich zeigen, wie die Schäden der Modernisierung systematisch und global vom Westen her an als «anders» apostrophierte soziale Gemeinschaften delegiert worden sind. Aber wer weiss, was er noch zu schreiben weiss, ausser er selbst?

Geschichtsprofessor am Puls der Zeit

Innovativ war Mattioli auch in der Lehre. Generationen von Studierenden gingen durch seine Film-Seminare. Er hat früh erkannt, dass die multimediale Gesellschaft, in der wir leben, nicht nur klassische Schriftquellen hinterlässt. Öffentliche Erinnerung ist längst audiovisuell. Auf den Medienwandel muss die historische Forschung und Lehre reagieren. Die Studierenden haben Aram Mattioli als Dozenten immer sehr geschätzt. Er verlässt die Universität mit der Bemerkung: das Schlimmste an der Emeritierung sei, den Kontakt zu den Studierenden zu verlieren.

Aram Mattioli hat einen eigenen Stil des «Public Intellectual» geprägt, v.a. in Kooperation mit der Deutschen Wochenzeitung «Die Zeit». Sorgfältig, kritisch, und stets hervorragend fundiert, interveniert er öffentlich mit vornehmer Zurückhaltung zu vielen aktuellen Themen. Er beobachtet unbestechlich genau den Entwicklungsgang seiner Disziplin. Und er interveniert mit gehöriger Resonanz. Das wird gewiss so bleiben.

Foto Daniel Speich

Daniel Speich Chassé

Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Globalgeschichte, Dekan der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät

www.unilu.ch/daniel-speich