Der Historiker Nadir Weber untersucht zusammen mit seinem Team, wer in der Frühen Neuzeit Zugang zu Staatsgeheimnissen hatte, wie sie bewahrt und versteckt, aber auch als politische Mittel eingesetzt wurden. Dies ermöglicht neue Blicke auch auf den Luzerner Wasserturm.
Aktueller könnten die Fragestellungen, die Assistenzprofessor Nadir Weber derzeit in seinem vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten «Eccellenza»-Projekt bearbeitet, kaum sein: Wie finden politische Entscheidungsgremien die richtige Mischung aus Transparenz und Geheimhaltung? Denn wo die Balance zwischen Nachvollziehbarkeit und dem Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung liegt, wird derzeit intensiv debattiert. In der Schweiz liegt der Fokus auf der bundesrätlichen Informationspolitik während der Pandemie, in den USA richtet sich der Blick auf die Frage danach, wo ein Präsident geheime Unterlagen aufbewahren darf – und wo eben nicht. Eine wichtige Rolle kommt dabei den Medien zu; einerseits als Ort der Debatte, anderseits sind Medienhäuser selbst Akteure im Ringen um dieses delikate Gleichgewicht.
Kollektive Entscheidungen und erste Massenmedien
Nadir Weber blickt im Rahmen seines Projekts «Republican Secrets: Silence, Memory, and Collective Rule in the Early Modern Period», das im vergangenen September gestartet ist, zurück in die Frühe Neuzeit. Denn um die Gegenwart zu verstehen, hilft ein Blick in die Vergangenheit. In der Zeit von 1500 bis 1800 verändern sich Prozesse, die zu politischen Entscheidungen führen, markant. Im Unterschied zu Monarchien, in denen ein Staatsoberhaupt die wichtigsten Entscheidungen trifft, sind in den sich entwickelnden Republiken zahlreiche Mitglieder von Ratsgremien daran beteiligt. Diese beanspruchen Einsicht in die Staatsgeheimnisse - und auch die Bürgerinnen und Bürger ausserhalb der Ratsstuben wollen wissen, was warum beschlossen wird. Auch wenn manches geheim gehalten wird, um die Interessen der jungen Republiken, also nicht-monarchischer Staaten, zu schützen, besteht der Anspruch, eine Nachvollziehbarkeit herzustellen.
Ohne Öffentlichkeit wäre das Thema Geheimhaltung kaum denkbar
Gleichzeitig entstehen im 17. Jahrhundert die ersten Massenmedien – Drucksysteme, die mit beweglichen Lettern arbeiten, ermöglichen eine breite Streuung von Informationen an ein grosses Publikum. Die ersten Periodika kommen auf den Markt, also Vorläufer der heutigen Zeitungen und Zeitschriften. Befeuert wird diese Entwicklung durch die Etablierung von Postrouten, die das rasche Verbreiten von Informationen gestatten – und damit auch eine Öffentlichkeit schaffen für politische Entscheidungen. Ohne diese Öffentlichkeit wäre das Thema Geheimhaltung kaum denkbar, die beiden Aspekte bedingen sich gegenseitig.
Geheimnisse, Gold und Verbrecher im Wasserturm
Zusammen mit den beiden Doktorierenden Debora Heim und Jan Haugner untersucht Weber den Umgang mit Geheimnissen vor allem im 17. und 18. Jahrhundert, als sich in Europa Republiken rasant entwickeln. Eine davon ist der Kanton Luzern. Und der Wasserturm, der heute ein weltberühmtes Wahrzeichen des Hauptorts Luzerns ist, gehört zu den Forschungsobjekten der drei Forschenden. Im Herbst letzten Jahres, kurz nachdem das SNF-Projekt im September gestartet ist, haben sich Weber, Heim und Haugner das markante Bauwerk bei einer Exkursion vom Artillerieverein Luzern zeigen lassen – dieser ist dort seit 85 Jahren Hausherr. Bei der Exkursion dabei waren auch die drei Hilfsassistentinnen Simona Baumgartner, Noemi Fuchs und Nicole Schraner, Masterstudentinnen der Geschichte, die ebenfalls ein wichtiger Teil des Teams sind.
Die Funktionen des Wasserturms waren im 17. und 18. Jahrhundert sehr vielseitig – dazu gehörte der Schutz von Staatsgeheimnissen.
Erstmals schriftlich erwähnt wird der Wasserturm 1367, er dürfte damals allerdings schon rund hundert Jahre alt gewesen sein. «Die Funktionen des Wasserturms waren im 17. und 18. Jahrhundert sehr vielseitig – dazu gehörte der Schutz von Staatsgeheimnissen», erzählt Weber. Der Wasserturm diente sowohl als Kerker, Staatsarchiv wie auch als Schatzkammer. Goldtruhen und Geheimnisse aufbewahren und Verbrecher verwahren am gleichen Ort? «In der damaligen Zeit war das nicht ungewöhnlich», ordnet Weber ein. Auch der Ort ist nicht untypisch: einerseits mit einem gewissen Stolz präsentiert vor aller Augen, anderseits gut geschützt und einfach zu verteidigen. Eingekerkerte Verbrecher, der Staatsschatz und ein Archiv voller Wissen sind zudem alles Zeichen der Macht, mit denen sich der entwickelnde Staat Luzern in Szene setzte.
Wer hatte Zugang zu den Archiven?
Exkursionen sind zwar durchaus ein Teil der Forschungstätigkeit, viel Arbeit passiert aber auch am Schreibtisch im Büro. Debora Heim und Jan Haugner lesen sich zurzeit vertieft in ihre Themen ein und machen sich Gedanken dazu, wie sie ihre Forschungsfragen am besten angehen können. Haugner hatte den Fokus zuerst auf die Entwicklung passender Methoden gelegt, bevor er sich in die Archivarbeit vertiefte. Er schliff sozusagen die Gläser der Brille, mit der er seine Quellen nun betrachtet. In seiner Dissertation möchte er Massnahmen herausarbeiten, die frühneuzeitliche Republiken zum Schutz von archivierten Staatsgeheimnissen trafen. Zentral ist dabei die Frage, wer Zugang zu obrigkeitlichen Archiven erhielt und welche politischen und sozialen Aufstiegschancen sich daraus ergaben.
Die Sichtung von Material und das Erarbeiten meiner Forschungsmethoden können sich gegenseitig wichtige Impulse geben.
Debora Heim verfolgt einen anderen Ansatz: «Die Sichtung von Material und das Erarbeiten meiner Forschungsmethoden können sich gegenseitig wichtige Impulse geben», sagt Heim, die somit sozusagen an beiden Fronten gleichzeitig tätig ist. Ihr Ziel ist es, die unterschiedlichen Rollen und Funktionen von «Geheimen Räten» zu beleuchten. Diese Beratungsgremien untersucht sie anhand von geheimen Ratsmanualen und Korrespondenzen, sie studiert aber auch Tagebücher und Bildquellen. In ihrer Dissertation vergleicht sie dabei die Handhabung in mehreren eidgenössischen Republiken, die Vorläufer unserer heutigen Kantone sind.
Auch Dokumente aus dem Archiv der damaligen Berner Patrizierfamilie von Graffenried berücksichtigt die Doktorandin in ihrer Studie; einer der heutigen Nachfahren, Alec von Graffenried, ist derzeit Stadtpräsident der Schweizer Bundesstadt. Auch diesen Papieren haftet etwas Geheimes an; so darf nur mit offizieller Erlaubnis darauf zugegriffen werden – und diese wurde erteilt. Debora Heim: «Die Familie hat mit Wohlwollen und Interesse auf meinen Antrag reagiert.»
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Frühere Newsmeldung zum Erhalt der «Eccellenza»-Assistenzprofessur