Ob wenige Jahre vor dem Erreichen des regulären Pensionsalters oder mitten im Erwerbsleben: Viele Sozialversicherungen bieten kaum Anreize, länger oder mehr zu arbeiten. Eine Studie am Lehrstuhl für Politische Ökonomie zeigt, was sich dagegen tun liesse.
In der Schweiz gewährleistet ein engmaschiges soziales Sicherheitsnetz in jeder Lebenslage den Lebensunterhalt der Bevölkerung. Pflichtversicherungen wie die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) sichern soziale Risiken wie Alter, Invalidität oder Krankheit ab. Ausserdem richten sozialstaatliche Einrichtungen wie die Ergänzungsleistungen (EL) zur AHV und Invalidenversicherung (IV) bedarfsabhängige Leistungen aus. Der Ausbau der Sozialwerke hat massgebend dazu beigetragen, die Lebensverhältnisse umfassender Teile der Bevölkerung bedeutend zu verbessern. Doch die wachsenden Ausgaben stellen Politik und Gesellschaft immer öfter vor Herausforderungen.
Ein Forschungsteam an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät unter der Leitung von Christoph A. Schaltegger, Ordinarius für Politische Ökonomie, hat im Auftrag des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) untersucht, inwiefern sich die Sozialwerke negativ auf das Arbeitsangebot auswirken. Ausserdem wurden Lösungsansätze diskutiert, wie sich die Arbeitsanreize verbessern liessen.
Gesellschaft profitiert
Sowohl die Sozialsysteme als auch die zu ihrer Finanzierung benötigten Abgaben und Steuern üben Anreizwirkungen aus, da sie das verfügbare Einkommen der Haushalte wesentlich beeinflussen. Beispielsweise können öffentliche Hilfeleistungen die Empfängerinnen und Empfänger davon abhalten, ihr Pensum zu erhöhen oder überhaupt eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Von einer möglichst anreizkompatiblen Ausgestaltung der Sozialversicherungen profitieren daher sowohl die betroffene Person als auch die Gesellschaft. Letztere gleich doppelt: Einerseits steigt durch den Abbau von Fehlanreizen die Erwerbsbeteiligung von Leistungs- beziehenden, sodass der Staat weniger Transferleistungen ausbezahlen muss, und andererseits kann der Staat zugleich mit höheren Steuererträgen und Sozialversicherungsbeiträgen rechnen.
Politik steht vor Trilemma
Durch die demografische Entwicklung und das immer zuwanderungskritischere Umfeld gilt es ausserdem, das Potenzial der inländischen Arbeitskräfte stärker auszuschöpfen. Dabei müssen die Zielkonflikte berücksichtigt werden, die mit der Stärkung der Arbeitsanreize verbunden sein können. Denn in der Sozialpolitik stehen die Entscheidungsträger oft vor einem Trilemma: Einerseits soll das Niveau der sozialen Sicherung erhalten bleiben, andererseits muss die Finanzierbarkeit gewährleistet sein und gleichzeitig braucht es wirksame Arbeitsanreize.
Fünf Zielgruppen
Um die Arbeitsanreize zu analysieren und den Optimierungsbedarf zu identifizieren, nimmt die Studie eine zielgruppenspezifische Sicht ein. Denn bei der Vielfalt an Anreizen ist eine Gesamtaussage für alle auf dem Arbeitsmarkt tätigen Personen weder möglich noch relevant. Die Zielgruppen sind in unterschiedlichem Ausmass und in unterschiedlichen Lebensphasen – im Erwerbsleben sowie kurz vor und nach der Pensionierung – von den Anreizwirkungen der zwölf untersuchten Sozialwerke betroffen. Insgesamt stehen fünf Zielgruppen im Fokus: einkommensstarke Personen, einkommensschwache Personen, Jugendliche und junge Erwachsene, einkommensschwache Familien sowie Zweitverdiener. An dieser Stelle sei die Analyse anhand zweier Beispiele illustriert.
- Einkommensstarke Personen sind insbesondere bei ihrer Ruhestandsentscheidung mit beeinträchtigten Erwerbsanreizen konfrontiert. Hohe Vorsorgevermögen – akzentuiert durch das tiefe Mindestrücktrittsalter in der zweiten Säule von 58 Jahren – erhöhen die Attraktivität von (Teil-)Pensionierungen vor Erreichen des ordentlichen Rentenalters. Auch nach Erreichen des ordentlichen Pensionsalters bestehen negative Arbeitsanreize: Die AHV-Beitragspflicht erhöht die Steuerlast, sodass das verfügbare Einkommen durch Erwerbsarbeit kaum verbessert werden kann. Die in der Revision der Altersvorsorge unter dem Stichwort Flexibilisierung beworbenen finanziellen Anreize (Rentenzu- und -abschläge bei Abweichung des ordentlichen Rentenalters) wirken deshalb nur eingeschränkt. Einen grösseren Einfluss auf die Ruhestandsentscheidung geht indes vom ordentlichen und vom frühestmöglichen Rentenalter aus.
- Aus Anreizsicht sind Transferleistungen für Jugendliche und junge Erwachsene in zweierlei Hinsicht problematisch: Erstens schaffen sie frühzeitige Abhängigkeiten, an die sich die Hilfebeziehenden gewöhnen. Leistungen der IV, unter Umständen in Kombination mit EL, stellen eine bedeutende Einkommensalternative dar. Zweitens hat die Abhängigkeit von Transferleistungen negative Auswirkungen auf ihre Erwerbskarrieren, da sich die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt aufgrund von IV-Rentenstufen und Schwelleneffekten beim Austritt nicht lohnt. Diesbezüglich ist die Idee weiterzuverfolgen, IV-Renten für Unter-30-Jährige durch verstärkte Betreuungs- und Eingliederungsmassnahmen zu ersetzen.
In der EL und in geringerem Ausmass auch in der Sozialhilfe müsste zur Stärkung der Erwerbsanreize eine Senkung des Grundbedarfs ins Auge gefasst werden. Ausserdem sollte man ein nach Bezugstyp differenziertes Sozialhilfesystem diskutieren, bei dem der Grundbedarf für kinderlose junge Erwachsene geringer ist als der von älteren Leistungsbeziehenden. Im Gegenzug könnten höhere Integrationszulagen für erfolgreiche Anstrengungen zur beruflichen Integration ausgerichtet werden.
Potenzial vorhanden
Die Studie zeigt, dass das Potenzial für die Korrektur bestehender Anreize, die vom Eintritt in den Arbeitsmarkt oder von Zusatzverdiensten abhalten, vorhanden ist. Doch die Realisierung bewegt sich oft im erwähnten sozialpolitischen Trilemma: Will man mit vertretbarem Mitteleinsatz sowohl Arbeitsanreize schaffen als auch Schwelleneffekte mindern, führt meist kein Weg an einem tieferen Niveau der sozialen Sicherheit vorbei.
Christoph A. Schaltegger
Professor für Politische Ökonomie
unilu.ch/christoph-schaltegger
Lukas A. Schmid und Patrick Leisibach
wissenschaftliche Assistenten an der Professur von Christoph Schaltegger und Co-Autoren der Studie
unilu.ch/lukas-schmid | unilu.ch/patrick-leisibach