Wer über Nachhaltigkeit nachdenkt, tut dies primär am Phänomen des Abfalls und mit Blick auf das diesbezügliche Verhalten seiner Mitmenschen: Dies ist einer der Befunde aus einer Lehrveranstaltung mit Luzerner Soziologie-Studierenden.

(Bild: ©KEYSTONE/CARO/Bastian)

In der Soziologie war Nachhaltigkeit lange kein Thema. Besser gesagt, es war ein Thema, das Soziologinnen und Soziologen umgingen – zu normativ und moralisch aufgeladen sei es. Mittlerweile hat man sich von dieser Haltung verabschiedet und begonnen, eine Soziologie der Nachhaltigkeit zu entwickeln. Eine der zentralen Fragen lautet dabei, was Nachhaltigkeit überhaupt bedeute. Um hierauf eine Antwort zu finden, gingen Studierende im Rahmen zweier Lehrveranstaltungen ins Feld, um Situationen zu beobachten und solche zu protokollieren, in denen sie sich selbst mit Nachhaltigkeit befassen. Dazu bedienten sie sich der sogenannten teilnehmenden Beobachtung, welche als etablierte sozialwissenschaftliche Datenerhebungsmethode gilt, um lokale Bedeutungen und Banalitäten des Alltags zu erfassen.

(Scheinbar) omnipräsente Thematik

Weil sich «Nachhaltigkeit» in Wirtschaft, Politik und Medien zum Schlagwort etabliert hat, verwundert es wenig, dass die Studierenden, ihren Protokollen zufolge, ständig auf «Nachhaltigkeit» treffen. Sei dies an der Bushaltestelle auf dem Weg zur Universität, wenn ihnen beim Warten eine herumliegende Einwegmaske auffällt. Sei dies in der Bibliothek, umgeben von einer grossen Menge an Laptops und Smartphones. Oder während einer Mittagspause, wenn ihnen die Mülltonnen ins Auge stechen, die übervoll mit Take-Away-Boxen sind. Aber auch beim Feiern: bei der Beobachtung, wie die Gäste einer Homeparty Essensreste in Tupperware packen, um Food Waste zu vermeiden.

Interessant werden die Protokolle im Hinblick darauf, wie Nachhaltigkeit beobachtet wird, und was dabei ins Auge fällt. Für das Was zeigt sich, dass Abfall unbewusst als eine Art Türöffner für die Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit dient. Das heisst, im Alltag bedeutet Nachhaltigkeit eine Auseinandersetzung mit Abfällen und dem konkreten Sinn und Zweck von Verpackungsmaterial. Besondere Aufmerksamkeit wird der ökologischen Dimension des Abfalls (z.B. Verschmutzung der Landschaft, Verschwendung von Ressourcen) geschenkt, obwohl Nachhaltigkeit bekanntlich ebenso über eine soziale und ökonomische Komponente verfügt.

Die Studierenden beobachten die Nachhaltigkeit durch den Blick auf die zu beobachtende Person.

Im Hinblick auf das Wie zeigen die Protokolle einen Fokus auf das Verhalten der Anderen. So beobachten die Studierenden Nachhaltigkeit durch den Blick auf die zu beobachtende Person – wie das Gegenüber sich im Alltag beispielsweise im Umgang mit Abfall verhält. Dabei erschliesst sich aus den Protokollen eine stark wertende Haltung, welche mit diesem Blick verbunden ist. Studierende beobachten das Gegenüber und bewerten in einem zweiten Schritt das Verpackungsmaterial als das «richtige» oder «falsche». Diese Fixierung auf die Bewertung der Anderen erhärtet sich in vielen Protokolleinträgen. Als stille Beobachtende in der Früchteabteilung eines Ladens haben die Studierenden klare Vorstellungen darüber, was andere als Verpackungsmaterial (nicht) wählen sollten. Diese Fokussierung auf die Anderen und ihren Abfall ist deshalb nennenswert, weil sich doch gerade hier auch andere, für die Nachhaltigkeit relevante Fragen stellen liessen: Wie nachhaltig kann eine Banane sein, wenn sie so billig ist? Welche Auswirkungen hat der niedrige Preis auf die Arbeits- und Produktionsbedingungen?

In der Gesamtschau sind die Protokolle für eine soziologische Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeit aufschlussreich, weil sie aufzeigen, dass Nachhaltigkeit im Alltag primär einen selektiven Blick auf den Abfall der Anderen bedeutet. Im Vordergrund stehen dabei ökologische Probleme, während soziale und ökonomische Herausforderungen kaum thematisiert werden. Zu behaupten, dass die teilnehmenden Studierenden das eigene Verhalten und dessen Nachhaltigkeit nicht reflektierten, wäre jedoch falsch. Einige Studierende ziehen eine Art Selbstbilanz und wägen ab, was an ihrem Tag nachhaltig gewesen sei und was nicht. So sei es zum Beispiel positiv, dass man Bio-Früchte gekauft und den Rucksack von Zuhause mitgenommen habe, statt Einwegtaschen zu nutzen. Negativ bewertet wird dann, dass man den Töff genommen habe, um das Mittagessen einzukaufen, und Nespresso-Kaffeekapseln nutze.

Mehrdimensionale Betrachtung

Wenn Nachhaltigkeit im Alltag von Studierenden eine Auseinandersetzung mit Abfall bedeutet, können wir daraus schlussfolgern, dass Abfall auch ein vielversprechender Türöffner für Nachhaltigkeitsdebatten bildet. Dabei ist Abfall als Einstieg auch deshalb hilfreich, weil sich daran die ungerechtfertigte Konzentration auf die ökologische Dimension des Nachhaltigkeitsbegriffs problematisieren lässt. So betonen die Studierenden zu Recht die desaströsen ökologischen Folgen von Abfall, doch bleiben die Abfallberge unserer Konsumgesellschaft, die sich in den marginalisierten Regionen unserer Erde – der sogenannten Dritten Welt – auftürmen, unsichtbar. Die Sichtbarmachung dieser Ungleichheiten in einer nach Nachhaltigkeit strebenden Gesellschaft ist ebenfalls Aufgabe der Soziologie.

Jennifer Widmer

Masterstudentin in Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften mit Schwerpunkt Management- und Organisationswissenschaften sowie Forschungsmitarbeiterin am Soziologischen Seminar. Im Rahmen eines Seminars hat sie teilnehmend beobachtet, was Nachhaltigkeit in ihrem Alltag bedeutet.

Nadine Arnold

Doktorin der Soziologie; Oberassistentin am Soziologischen Seminar. Arnold forscht zu Themen der Nachhaltigkeit und hat hierzu verschiedene Lehrveranstaltungen durchgeführt.
unilu.ch/nadine-arnold