Seelisberg als Wiege des Religionen-Dialogs
Im Sommer 1947 fand in Uri die "Dringlichkeitskonferenz gegen Antisemitismus" statt. Ein neues Forschungsprojekt beschäftigt sich mit diesem Gründungsereignis jüdisch-christlicher Verständigung im 20. Jahrhundert und seiner Wirkungsgeschichte.
Verena Lenzen*, worum ging es an der Konferenz in Seelisberg, die im Fokus Ihrer Studie steht?
Verena Lenzen: Zweck und Ziel des siebentägigen Anlasses war die Bekämpfung des Antisemitismus, die Überarbeitung der christlichen Lehre und Theologie und die Aufnahme des jüdisch-christlichen Gesprächs. Als Sprache der Konferenz im Hotel Kulm, an der 65 prominente Vertreter jüdischer und christlicher Organisationen aus 19 Ländern teilnahmen, wurde Englisch festgelegt; der Gebrauch der deutschen Sprache war an der Konferenz aus Pietätsgründen untersagt.
Was war der Grund für die Einberufung dieser "Dringlichkeitskonferenz "?
Zwei Jahre nach dem Völkermord an den Juden und dem Fall von Nazi-Deutschland hatte man realisiert, dass damit der Antisemitismus keineswegs ein Ende gefunden hatte. Dies, weil die Ressentiments viel tiefer gründeten und unter anderem auch in der christlichen Lehre wurzelten. Daher wollte man diese auf antijudaistische Stereotypen überprüfen und eine vorurteilsfreie Beziehung zwischen den beiden Religionen aufbauen, versuchen, in einem neutralen Land eine Brücke über den "Graben der Geschichte" zu schlagen – eine Pionierleistung. Die Arbeit der Konferenz-Teilnehmenden mündete in zehn Thesen [siehe Kontextelement unten].
Erzählen Sie bitte mehr dazu.
In diesem Appell an die Kirchen wurde unter anderem betont, dass es sich um ein und denselben Gott im Alten Testament wie im Neuen Testament handle und dass das Gebot der Nächstenliebe für beiden Religionen gleichermassen gelte. Es sei hervorzuheben, dass Jesus und Maria und auch die Apostel und ersten Märtyrer jüdisch gewesen seien – dies so klar anzusprechen, war seinerzeit geradezu revolutionär. Ausserdem müsse dem Klischee entgegengewirkt werden, wonach alle Juden oder "die Juden" schuld an der Tötung Jesu seien.
Dieser Punkt scheint nach wie vor nicht unbedingt abgehakt ...
In der Tat handelt es sich hierbei um einen noch immer laufenden Prozess. Die grossen Passionsspiele im bayerischen Oberammergau etwa erfuhren erst nach 1970 eine entsprechende Revision. Generell ziehen sich diverse Antijudaismen durch Volksfrömmigkeit und Kirchenkunstgeschichte und werden so weitertradiert. Man denke nur an Ecclesia und Synagoge, die symbolischen Verkörperungen von Christen- und Judentum, wie sie an vielen Kirchen als Statuen zu sehen sind: Ecclesia stolz mit Krone, Synagoge mit verbundenen Augen und zerbrochener Lanze. Zudem sind Motive auf Kirchenfenstern zu nennen. Auch angezeigt wäre es, Kirchenlieder auf negative Wertungen hin zu untersuchen.
Kommen wir auf die Konferenz 1947 zurück. Wer genau nahm daran teil?
Dabei waren 8 katholische, 23 protestantische und 28 jüdische Intellektuelle, unter Letzteren der französische Historiker Jules Isaac, der eine sehr eindrückliche Biografie aufweist: Auf der Flucht vor den Nazis – seine Familie war deportiert worden – schrieb Isaac am ersten von zwei Büchern, welche von einem um Verständigung bemühten Christentum ausgehen und die Grundlage für die Seelisberger Thesen bildeten. Mit Blick auf die Hintergründe der 65 Teilnehmenden lässt sich sagen, dass die christlich-jüdische Zusammenarbeit in der Schweiz vor allem aus der konfessionell organisierten Flüchtlingshilfe während des Zweiten Weltkrieges erwuchs und von einzelnen couragierten Persönlichkeiten getragen wurde.
In Ihrer Studie werden unter anderem die Motive der einzelnen Teilnehmenden untersucht. Lässt sich dazu bereits etwas sagen?
Diesbezüglich zeigt sich bereits eine deutliche Richtung: Zu den humanistisch-ethischen Beweggründen der Protestanten traten nicht selten judenmissionarische Absichten, was natürlich problematisch für einen interreligiösen Dialog ist, der ja die Anerkennung des Anderen voraussetzt. Auf katholischer Seite ist die hohe Zahl von jüdischen Persönlichkeiten auffällig, die zum Christentum konvertiert waren und zu einer christlichen Rückbesinnung auf die jüdischen Wurzeln beitragen wollten. Viele der jüdischen Repräsentanten stammten aus einem deutsch-liberalen Umfeld und hofften nach der gescheiterten deutsch-jüdischen Symbiose auf eine jüdisch-christliche Verständigung.
Welche Wirkung hatte die Konferenz?
Sie legte die Basis für einen grundlegenden Wechsel der Sicht auf das Judentum in der katholischen Kirche. Dies manifestierte sich 1965 im Rahmen des Zweiten Vatikanischen Konzils in der "Erklärung über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen", besser bekannt als "Nostra Aetate" (In unserer Zeit). Mit der Beendigung einer fast 2000-jährigen Tradition der Verachtung und der Feindschaft gegenüber dem Judentum wurde der Weg frei für ein vorurteilsfreies jüdisch-christliches Verhältnis. Allerdings ging die Dringlichkeitskonferenz in Seelisberg als Initialzündung über die Jahre fast ein wenig vergessen.
Generell scheint die Verknüpfung von (Zentral-)Schweizer und jüdischer Geschichte nicht besonders nachhaltig in den Köpfen verankert zu sein ...
Ja, das erachte ich als sehr bedauerlich. Man kann nämlich stolz darauf sein, dass die Konferenz und auch der Zionistenkongress 1935 hier in der Region stattgefunden haben – und dürfte dies ruhig auch mehr zeigen. Auch in Touristenführern scheint das Thema komplett ausgeblendet. Ich hoffe, dass meine Forschung dazu beiträgt, dafür ein Bewusstsein zu schaffen. Eine gute Möglichkeit bietet sich sicher im Jahr 2017, wenn sich die Dringlichkeitskonferenz zum 70. Mal jährt. Bis dann wird die Studie so weit fortgeschritten sein, dass Resultate präsentiert werden können. Es soll generell kein Forschungsprojekt sein, das in verschlossenen Archivräumen bleibt.
Nostra Aetate – 50 Jahre danach: Wie ist die Situation heute?
Hinsichtlich interreligiösem Dialog im Allgemeinen und christlichjüdischem Dialog im Besonderen wurde viel geleistet, es gibt aber nach wie vor viel zu tun, man muss immer wieder neue Anläufe nehmen. Beispielsweise wurde 2011 ein "Tag des Judentums" ins Leben gerufen, der in der katholischen Kirche der Schweiz jeweils am 2. Fastensonntag begangen wird, das nächste Mal am 21. Februar 2016. Dies auf Anregung der Jüdisch/Römisch-katholischen Gesprächskommission, deren Co-Präsidentin ich bin. Eine andere Initiative ist der interreligiöse Friedenspreis Mount Zion Award, der unter Beteiligung des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung an der Universität Luzern jeweils in Jerusalem verliehen wird. Zurzeit ist meine grösste Befürchtung, dass die fatale Verknüpfung von – im Grundsatz oft berechtigter – Kritik an der Politik Israels und von Antisemitismus zu einer neuen Art des Judenhasses führt. Auch heute kann uns der Rückblick auf Seelisberg noch Weg und Richtung weisen.
* Prof. Dr. Verena Lenzen ist Professorin für Judaistik und Theologie / Christlich-Jüdisches Gespräch und Leiterin des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung (IJCF). Das von ihr geleitete, auf drei Jahre angelegte Forschungsprojekt trägt den Titel "Die Konferenz von Seelisberg (1947) als ein internationales Gründungsereignis des jüdisch-christlichen Dialogs im 20. Jahrhundert". Es wird vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt. Das Team besteht neben Prof. Lenzen aus zwei Doktorierenden. Mit Jehoschua Ahrens war zur Zeit der Publikation des Artikels ein Doktorand bestimmt.
1. Es ist hervorzuheben, dass ein und derselbe Gott durch das Alte und Neue Testament zu uns allen spricht.
2. Es ist hervorzuheben, dass Jesus von einer jüdischen Mutter aus dem Geschlechte Davids und dem Volke Israel geboren wurde und dass seine ewige Liebe und Vergebung sein eigenes Volk und die ganze Welt umfasst.
3. Es ist hervorzuheben, dass die ersten Jünger, die Apostel und die ersten Märtyrer Juden waren.
4. Es ist hervorzuheben, dass das grösste Gebot für die Christenheit, die Liebe zu Gott und zum Nächsten, schon im Alten Testament verkündigt, von Jesus bestätigt, für beide, Christen und Juden, gleich bindend ist, und zwar in allen menschlichen Beziehungen und ohne jede Ausnahme.
5. Es ist zu vermeiden, dass das biblische und nachbiblische Judentum herabgesetzt wird, um dadurch das Christentum zu erhöhen.
6. Es ist zu vermeiden, das Wort "Juden" in der ausschliesslichen Bedeutung "Feinde Jesu" zu gebrauchen oder auch die Worte "die Feinde Jesu", um damit das ganze jüdische Volk zu bezeichnen.
7. Es ist zu vermeiden, die Passionsgeschichte so darzustellen, als ob alle Juden oder die Juden allein mit dem Odium der Tötung Jesu belastet seien. Tatsächlich waren nicht alle Juden, welche den Tod Jesu gefordert haben. Nicht die Juden alleine sind dafür verantwortlich, denn das Kreuz, das uns alle rettet, offenbart uns, dass Christus für unser aller Sünden gestorben ist.
Es ist allen christlichen Eltern und Lehrern die schwere Verantwortung vor Augen zu stellen, die sie übernehmen, wenn sie die Passionsgeschichte in einer oberflächlichen Art darstellen. Dadurch laufen sie Gefahr, eine Abneigung in das Bewusstsein ihrer Kinder oder Zuhörer zu pflanzen, sei es gewollt oder ungewollt. Aus psychologischen Gründen kann in einem einfachen Gemüt, das durch leidenschaftliche Liebe und Mitgefühl zum gekreuzigten Erlöser bewegt wird, der natürliche Abscheu gegen die Verfolger Jesu sich leicht in einen unterschiedslosen Hass gegen alle Juden aller Zeiten, auch gegen diejenigen unserer Zeit, verwandeln.
8. Es ist zu vermeiden, dass die Verfluchung in der Heiligen Schrift oder das Geschrei einer rasenden Volksmenge: "Sein Blut komme über uns und unsere Kinder" behandelt wird, ohne daran zu erinnern, dass dieser Schrei die Worte unseres Herrn nicht aufzuwiegen vermag: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun", Worte, die unendlich mehr Gewicht haben.
9. Es ist zu vermeiden, dass der gottlosen Meinung Vorschub geleistet wird, wonach das jüdische Volk verworfen, verflucht und für ein ständiges Leiden bestimmt sei.
10. Es ist zu vermeiden, die Tatsache unerwähnt zu lassen, dass die ersten Mitglieder der Kirche Juden waren.
Quelle: uniluAKTUELL, das Magazin der Universität Luzern, Ausgabe 53, November 2015.
Artikel als pdf downloaden