Schriftgut als Forschungsmaterial in Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften
Wie kommt man von schriftlichen Aufzeichnungen zu geltungskräftigen wissenschaftlichen Erkenntnissen? Dieser Frage geht das Forschungsprojekt "Schreibtischstudien" – ein gemeinsames Projekt von Universität Luzern und ETH Zürich – nach.
Obschon effiziente und ökonomisch rentable Technologien zur Energieeinsparung zur Verfügung stehen, setzt nur ein geringer Anteil der Schweizer Bevölkerung diese ein. Im Jahr 1540 herrschte in Europa eine extreme Trockenheit, deren Ausmass wahrscheinlich sogar den "Rekordsommer" von 2003 übertraf. Die Aussenpolitik der offiziellen Schweiz zeichnete sich gegenüber dem Apartheid-Regime Südafrikas (1948–1994) durch eine im Allgemeinen entgegenkommende und wenig kritische Haltung aus. – Diese Feststellungen haben nichts miteinander gemein, ausser dass sie alle drei auf der Auswertung von Schriftgut gründen. Bei historischen Studien erscheint dies selbstverständlich, aber wenn es um gesellschaftliche Einstellungen oder klimatische Phänomene geht, denkt man für gewöhnlich zunächst an andere Evidenzen. Geschriebenes als Basis von Forschungshandlungen umgibt in den Wissenschaften ein Hauch von Unzuverlässigkeit: Eine fixe Bedeutung lässt sich nicht ohne Weiteres festlegen, Annahmen und Fakten mischen sich oft nicht leicht unterscheidbar. Gleichwohl bilden Texte und Dokumente gar nicht so selten die empirische Grundlage von Forschung. Wer hätte zum Beispiel gedacht, dass Biologinnen und Biologen auch Speisekarten und Fanglisten benutzen, um die Zusammensetzung von marinen Ökosystemen zu rekonstruieren?
Aufbereitung des Materials notwendig
Texte und Dokumente verhalten sich an dieser Stelle äquivalent zum Bohrkern des Geologen oder zum Schnittpräparat der Pathologin: Im Zugriff auf dieses Material lassen sich Forschungsfragen beantworten, aber dieses Material steht nicht unmittelbar zur Verfügung. Man muss es sich beschaffen, aufbereiten, in eine für das eigene Argument adäquate Form bringen. Es gilt, aus Worten Belege zu machen und Beschreibungen in Zahlen zu verwandeln. Alle diese Schritte gehen in die schlussendlich getroffenen Aussagen ein: "Un fait est fait", auf diese kurze Formel hat es einmal der Wissenschaftstheoretiker Gaston Bachelard gebracht. Wie aber kommt man nun von schriftlichen Aufzeichnungen zu geltungskräftigen wissenschaftlichen Erkenntnissen? Und in welcher Beziehung stehen diese zu den Wegen, auf denen sie gewonnen wurden?
Diesen Fragen geht das von Christoph Hoffmann, Professor für Wissenschaftsforschung an der Universität Luzern, und Michael Hagner, Professor für Wissenschaftsforschung an der ETH Zürich, konzipierte und vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützte Forschungsprojekt "Schreibtischstudien" nach. Anhand dreier Arbeitsbereiche untersucht darin ein Team von Doktorierenden die Erschliessung von Schriftgut als Forschungsmaterial. Flurin Rageth, Doktorand an der Universität Luzern, verfolgt am Schweizerischen Bundesarchiv in Bern, wie dort Archivgut entsteht und für die Nutzung bereitgestellt wird. Von der Vorbereitung der abgebenden Behörden über die Eingliederung des Schriftguts in den Materialkontext des Archivs bis zu dessen Verwendung als Quelle für historische Untersuchungen orientiert sich die Studie am sogenannten "life cycle" von Dokumenten. Einen etwas anderen Gebrauch von Quellen machen die Historischen Klimatologinnen und Klimatologen, mit deren Arbeit sich Kris Decker beschäftigt, ebenfalls Doktorand an der Universität Luzern. Sein Augenmerk gilt den Infrastrukturen und Werkzeugen, mit denen in diesem Forschungsfeld für die Zeit vor dem Beginn regelmässiger Instrumentenmessungen aus Diarien, Reisejournalen und vielen anderen Typen von Aufzeichnungen regionale Daten zu Temperatur, Niederschlägen und klimatischen Extremereignissen wie Hochwasser oder Dürren abgeleitet werden. Im Mittelpunkt des dritten Teilprojekts steht eine Panelstudie aus den Sozialwissenschaften, die sich mit den Einstellungen zu Umweltpro-blemen und dem Umweltverhalten der Schweizer Bevölkerung beschäftigt. Anne-Marie Weist, Doktorandin an der ETH Zürich, interessiert sich dabei besonders für den Fragebogen, der von der Konstruktion bis zu den Regeln der Auswertung massgeblich Anteil daran hat, welches Bild gesellschaftlicher Grundhaltungen sich ergibt.
Erkenntnisgewinn durch Beobachtung
Wie in den einzelnen Feldern vorgegangen wird, lässt sich am besten "in Aktion" studieren. Das heisst nicht, dass Lehrbücher und Einführungswerke keine wertvollen Informationen liefern, aber zwischen Theorie und Praxis besteht notwendig ein Unterschied. Die zur Verfügung stehenden Ressourcen zwingen zu Anpassungen, Hindernisse treten erst im Umgang mit dem Material zutage, hilfreiche Kniffe werden selten dokumentiert. Hiervon erfahren Wissenschaftsforschende erst, wenn sie die verschiedenen Tätigkeiten direkt beobachten. Auf diesem Weg erhalten sie beispielsweise Kenntnis davon, wie in einem Archiv konkret entschieden wird, welche Teile der schriftlichen Unterlagen einer Behörde übernommen werden – und welche nicht. Einen weiteren Zugang bilden Interviews mit den Akteurinnen und Akteuren. Durch sie werden Wissenschaftsforscherinnen respektive -forscher auf nicht direkt ersichtliche Umstände in den Arbeitsschritten aufmerksam und lernen das Hintergrundwissen kennen, das in den Umgang mit dem Material eingeht. Liest eine Historische Klimatologin in einer Wetterchronik von einem "strengen Winter", kommt ein ganzer Satz von Einschätzungen und Überlegungen ins Spiel, ehe daraus ein Datenpunkt in einem Temperaturindex wird. Von grossem Nutzen sind schliesslich auch die vielfältigen Aufzeichnungen, die bei den untersuchten Tätigkeiten anfallen. So lässt sich an den verschiedenen Entwürfen des Fragebogens sehr genau verfolgen, wie der Gegenstand "Einstellung zu Umweltproblemen" erst nach und nach im Pretest seine endgültige Form gewonnen hat.
Mitten in den Fallstudien – das Projekt startete im Herbst 2013 – lassen sich noch kaum weiterreichende Einsichten formulieren. Ein Punkt sticht aber bereits hervor: In allen drei untersuchten Feldern spielt die eigene Geschichte der Unternehmungen eine zentrale Rolle. Für die Panelstudie über Einstellungen zu Umweltproblemen bedeutet das, dass Entscheidungen bei ihrer Lancierung Anfang der 1990er-Jahre – vor allem, in welcher Weise "Umwelt" zur Frage geworden ist – den Spielraum der Anschlussstudien erheblich begrenzen. So könnte man sagen, dass der Survey nach seiner Anlage in Teilen selbst schon historisch geworden ist. Ein ähnliches Problem stellt sich den Klimatologinnen und Klimatologen. Zur Bewertung von Textstellen wird dort ein Verzeichnis benutzt, das an mitteleuropäischem Quellenmaterial entwickelt wurde. Bei der Auswertung von Aufzeichnungen aus anderen Regionen stösst man damit auf eine doppelte Herausforderung: Nicht nur werden dort klimatische Phänomene beschrieben, die das Verzeichnis bislang nicht kennt. Es ist auch zu berücksichtigen, ob in analogen Formulierungen, beispielsweise einem Hinweis auf "Trockenheit", ein in derselben Weise zu kodierendes Phänomen zum Ausdruck kommt. Noch expliziter wird die Geschichte der eigenen Vorgehensweisen gegenwärtig im Schweizerischen Bundesarchiv. Mit der Einführung der elektronischen Geschäftsverwaltung in den Bundesbehörden und dem damit verbundenen Wandel hin zu einem "digitalen Archiv" gerät dort die bisherige Ausrichtung der Archivpraxis auf die Umstände eines "Papierarchivs" wieder eindringlich in den Fokus.
Kein wissenschaftsskeptischer Ansatz
Die Grundfrage des Projekts, wie aus der Verarbeitung von Schriftgut Erkenntnisse entstehen, zielt nicht auf die Evaluation der untersuchten Tätigkeiten ab. Weder Methodenkritik noch gar Wissenschaftsskepsis bestimmen die Interessen der Wissenschaftsforschung. Verständlich werden soll vielmehr, wie wissenschaftliche Aussagen zustande kommen und welche epistemologischen Standards dabei befolgt werden; was zum Beispiel für die Akteurinnen und Akteure ein "geeignetes Material" charakterisiert und wie eine "solide Auswertung" aussieht. Umfrageforschung, Historische Klimatologie und archivgestützte Geschichtswissenschaft bringen Einsichten hervor, die in unser Bild von der Welt eingehen und politische Prozesse beeinflussen. Es sind mit anderen Worten Einsichten, die mitten im Alltag wirkmächtig zum Tragen kommen. Einen Blick für ihre Bedingungen zu gewinnen, bildet in dieser Hinsicht die Voraussetzung dafür, sich über einen Teil der eigenen Lebensumstände Rechenschaft geben zu können.
Wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler forschen, sind sie meist zugleich am Schreiben. Ob im Labor oder im Archiv, im Feld oder im Büro, mal formalisierter, mal individuell geprägt, begleiten Aufzeichnungen alle ihre Tätigkeiten. Welche Rolle spielt das Schreiben im Forschungsprozess? Geht es nur darum, schnell eine Literaturstelle festzuhalten oder seine Beobachtungen zu notieren? Entlasten diese Schreibereien bloss das Gedächtnis, oder leisten sie noch mehr?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich Christoph Hoffmann in einer gegenwärtig entstehenden Monografie. Ihn interessiert zum Beispiel, wie das Protokollieren von Experimenten die Aufmerksamkeit verändert, welche neuen Aspekte an Forschungsgegenständen durch den Gebrauch von Tabellen, Listen und Synopsen freigelegt werden oder was Exzerpte und Randnotizen bei der Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Literatur leisten. Solche produktiven Funktionen von Schriftlichkeit bleiben gewöhnlich unter der Schwelle der Aufmerksamkeit. Allerdings besitzen einige Wissenschaften ausgefeilte Bestimmungen für die Verschriftung ihrer Gegenstände, die andeuten, wie sehr es darauf ankommt, wie und was jeweils vermerkt wird. Im Aufzeichnen werden nicht nur Dinge bearbeitet, durch das Aufzeichnen erhalten sie auch eine Form, die beeinflusst, in welcher Weise sich diese Dinge im Weiteren zu denken geben.