Imame, Rapper, Cybermuftis
Wie gehen junge muslimische Frauen und Männer in der Schweiz mit den Orientierungsangeboten islamischer Autoritäten um? Mit dieser Frage beschäftigt sich ein Forschungsprojekt an der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät.
Bis vor zwei Jahren stand Diam's als höchst erfolgreiche Rapperin im Rampenlicht. Dann wurde es ruhiger um Mélanie Georgiades, wie die im griechischen Teil Zyperns geborene Französin mit bürgerlichem Namen heisst.
Doch der Schein trügt: Die charismatische 34-Jährige, die im Verlauf ihrer steilen Popkarriere zum Islam konvertierte und dies durch das Tragen eines Kopftuchs nach aussen auch offen zeigte, fällt auf Facebook gerade in letzter Zeit durch ein erhöhtes Sendungsbewusstsein auf. Auf dem gegen eine Million "Gefällt mir"-Angaben aufweisenden Kanal publiziert Georgiades Einträge mit religiösem Hintergrund und kommentiert aus dieser Perspektive auch das Weltgeschehen. Dies mit enormer Resonanz vonseiten ihrer Fangemeinde, wobei die aktivsten Nutzerinnen und Nutzer gemäss Facebook-Statistik zwischen 18 und 24 Jahre alt sind.
Neue und andere Vorbilder
Bei Diam's handelt es sich nur um eines von zahlreichen Beispielen für ein neueres Phänomen, wie Prof. Dr. Martin Baumann, Leiter des Religionswissenschaftlichen Seminars an der Universität Luzern, ausführt: "Unter anderem auch durch die Möglichkeiten des Internets stehen jungen muslimischen Frauen und Männern bedeutend mehr und andere religiöse Vorbilder zur Verfügung, als dies noch vor wenigen Jahren der Fall war." Baumann ist Leiter des Forschungsprojekts "Imame, Rapper, Cybermuftis. Islamische Autoritäten, muslimische Jugendliche und gesellschaftliche Kohäsion in der Schweiz". Im Team dabei sind Dr. Jürgen Endres, Dr. Silvia Martens und Dr. Andreas Tunger-Zanetti vom Zentrum Religionsforschung. Das im November gestartete und auf zwei Jahre angelegte Projekt wird von der Stiftung Mercator Schweiz mit 412'000 Franken unterstützt. Damit erhielten an der Universität Luzern im Herbst 2014 insgesamt acht neue Forschungsvorhaben positiven Bescheid hinsichtlich der Förderung durch Drittmittel (siehe Artikel zum Thema).
Wie Martin Baumann ausführt, ist es das Ziel des Projekts, zu untersuchen, wie Musliminnen und Muslime im Alter von 15 bis 30 Jahren in der Schweiz mit Orientierungsangeboten islamischer Autoritäten umgehen, wie sie auswählen und selbst Position beziehen. Dieses Forschungsinteresse ist speziell interessant vor dem Hintergrund, da das Feld muslimischer Autoritäten Baumann zufolge seit der eidgenössischen Volksabstimmung über das Minarettverbot vor fünf Jahren erkennbar in Bewegung geraten ist: "Zunehmend laden neue Organisationen, die insbesondere ein junges Publikum ansprechen, Prediger aus Nachbarländern ein, etwa Pierre Vogel, aber auch Rapper wie Ammar 114 oder Nashid-Sänger wie Mohamed Yasbah." Überdies würden vermehrt auch in der Schweiz sozialisierte Muslime wie etwa Nicolas Blancho, Präsident des Islamischen Zentralrats Schweiz, als religiöse Autoritäten in Erscheinung treten, so Baumann. Schliesslich organisierten sich muslimische Jugendliche vermehrt in Zirkeln, in denen sie sich selbstbestimmt religiöse Kenntnisse und Interpretationen aneignen. "Diese Entwicklungen bedeuten eine ernsthafte Konkurrenz und Herausforderung für die bisher dominanten Autoritäten, also meist im Ausland ausgebildete und importierte Imame sowie auch bekannte TV-Prediger."
Versachlichung angestrebt
Einen wichtigen Stellenwert im Projekt "Imame, Rapper, Cybermuftis" nimmt die in der Öffentlichkeit kontrovers diskutierte Frage ein, welchen Einfluss solche Orientierungsangebote gegebenenfalls auf die Selbstpositionierung und auf die Haltungen der muslimischen Jugendlichen gegenüber Staat und Gesellschaft ausüben. Diesbezüglich sollen die auf der Grundlage von Interviews und teilnehmender Beobachtung zu gewinnenden Erkenntnisse zu einer Versachlichung der oft überaus emotional geführten Debatte beitragen: "Bis anhin lagen empirisch keine gesicherten Fakten darüber vor, wie junge Musliminnen und Muslime in der Schweiz 'ihre' Autoritäten und die von ihnen propagierten Werte auswählen, annehmen, gegen konkurrierende Meinungen abwägen und letztlich womöglich auch ablehnen – diese Forschungslücke möchten wir schliessen", so Martin Baumann. Ergebnisse aus der Vorgängerstudie "Muslimische Jugendgruppen und Bildung von zivilgesellschaftlichem Sozialkapital in der Schweizer Gesellschaft" (siehe auch Artikel zum Thema) würden jedenfalls nahelegen, dass die jungen Frauen und Männer wesentlich kritischer und eigenständiger vorgehen, als es der vorherrschende gesellschaftliche Diskurs annimmt bzw. unterstellt.
Wie das aktuelle Forschungsprojekt wurde auch "Muslimische Jugendgruppen" durch Drittmittel einer Stiftung – in diesem Fall der Jacobs Foundation mit 385'000 Franken – unterstützt. Martin Baumann, der an der Universität Luzern das Amt des Prorektors Forschung innehat, sagt zu dieser Art der Finanzierung: "Darin ist ein grosses Potenzial zu sehen. Wie bei der Förderung durch den Schweizerischen Nationalfonds und durch private Geldgeber handelt es sich um eine wichtige Säule, um Forschung zu ermöglichen." Besondere Chancen auf Unterstützung hätten aus seiner eigenen Erfahrung Projekte, aus deren Ergebnissen ein konkreter Nutzen für die Gesellschaft zu erwarten sei. Zudem legten Stiftungen oft Wert darauf, dass die Resultate nicht nur innerhalb des akademischen Rahmens diskutiert, sondern auch nach aussen an eine breitere Öffentlichkeit getragen werden. Für Gesuchstellende zentral sei die sorgfältige Prüfung, welche Stiftung für die Förderung des eigenen Projekts infrage kommen könnte. Baumann: "Diesbezüglich ist es unumgänglich, Zeit zu investieren."
500 bis 600 relevante Stiftungen
Forschende an der Universität Luzern bei diesen Abklärungen unterstützen kann die Stelle für Universitätsförderung. Deren Leiter, Erich Plattner, sagt: "Wir nehmen eine Art Drehscheibenfunktion ein, indem wir Brücken zwischen Förderern und Forschenden bauen." Plattner zufolge hat in den letzten Jahren die Förderung der Forschung durch Stiftungen und Private generell an Bedeutung gewonnen. In der Schweiz existieren rund 2500 Stiftungen, welche Wissenschaftsförderung betreiben, davon etwa 500 bis 600 im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften. 2013 flossen mehr als eine Million Franken von Stiftungen und Privaten in die Forschung an der Universität Luzern.
Quelle: uniluAKTUELL, das Magazin der Universität Luzern, Ausgabe 49, Dezember 2014.
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