Gütliche Einigungen: Blick nach England
Um Gerichte zu entlasten, gibt es international verschiedene Ansätze. Ein rechtsvergleichendes Forschungsprojekt untersucht mögliche Verbesserungen oder Ergänzungen des Schweizer Rechts durch ein Konzept des englischen Rechtssystems.
Im Rahmen ihres Forschungsprojekts sucht Dr. iur. Irma Ambauen nach Ansätzen, um die Bereitschaft von Konfliktparteien zu einem Vergleich zu erhöhen. Dazu beschäftigt sie sich mit dem 36. Teil der Zivilprozessordnung von England und Wales (Part 36 Civil Procedural Rules (CPR)), welcher Parteien ermutigen soll, einen Konflikt zu schlichten. Sogenannte "Part 36 offers to settle" können vor oder während eines Gerichtsverfahrens von jeder Partei gemacht werden. Sie müssen mindestens drei Wochen zur Annahme offenstehen. Nimmt die Gegenseite das Angebot nicht an, wirkt sich das auf die Verteilung der Prozesskosten aus, falls der ablehnenden Partei gerichtlich keine höhere Summe zugesprochen wird, als ihr offeriert wurde. Ziel ist es, den Druck auf die Streitparteien, den Konflikt gütlich zu regeln, zu erhöhen und so die Arbeitsbelastung von Gerichten zu verringern.
Das gleiche Ziel verfolgt die Schweizerische Zivilprozessordnung (ZPO), jedoch mit anderen Mitteln. Nach Artikel 197 ZPO muss einem Gerichtsverfahren ein Schlichtungsverfahren vorausgehen. Nur wenn der Schlichtungsversuch ergebnislos ist, wird eine Klagebewilligung ausgestellt. Dieses Prinzip unterliegt allerdings etlichen Ausnahmen.
Obwohl Schlichtungsverfahren in der Schweiz eine lange Tradition haben, zeigt sich, dass es insbesondere bei handelsrechtlichen Streitigkeiten Raum zur Verbesserung bei der Bereitschaft der Parteien zu Vergleichen gibt. Hier setzt das Forschungsprojekt "Part 36 offers to settle – a concept suitable for Switzerland?" von Irma Ambauen, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur von Prof. Dr. Daniel Girsberger, an. Ihr Ziel ist es, die praktischen Erfahrungen mit der neuen ZPO zu analysieren und Verbesserungen oder Ergänzungen durch das englische Konzept zu prüfen.
Forschungsaufenthalt in Newcastle
In einer ersten Projektphase verbringt Dr. Ambauen deshalb drei Monate als Forschungsstipendiatin an der Universität Northumbria in Newcastle upon Tyne. Der Forschungsaufenthalt an der englischen Universität, der noch bis Ende 2017 dauert, dient der Einarbeitung in Part 36 CPR und in verwandte Regeln des englischen Rechts mit dem Ziel, gütliche Einigungen zu fördern. Er bildet die Grundlage für die Übertragung des englischen Konzepts auf die Schweiz. Erst wenn diese Grundlage geschaffen ist, ist es möglich, die beiden Lösungsansätze funktional miteinander zu vergleichen. Dazu ist für die Luzernerin der Austausch mit anderen Forschenden, Experten und mit Praktikerinnen zentral. Denn mit Part 36 CPR hat der englische Gesetzgeber ein komplexes Konstrukt geschaffen. Kommt hinzu, dass das englische Rechtssystem – im Unterschied zum Schweizer Zivilrechtssystem – grundsätzlich auf Gewohnheitsrecht basiert.
Da in diesem Fall beide Gesetzgeber voneinander unterscheidende Lösungen für dasselbe Problem entwickelt haben, erhofft sich Irma Ambauen aus der Analyse Ergebnisse, mit denen beide Systeme potenziell verbessert werden können. Bereits während ihrer Dissertation an der Universität Luzern befasste sie sich mit einem prozessrechtlichen Thema.
Unterstützung durch Scientific Exchanges
Gefördert wird Irma Ambauens Forschungsaufenthalt in England mit 8900 Franken durch das Förderinstrument Scientific Exchanges des Schweizerischen Nationalfonds (SNF). Scientific Exchanges gewährt Beiträge für den internationalen wissenschaftlichen Austausch und ermöglicht Forschenden, Kolleginnen und Kollegen im Ausland zu besuchen oder für einen Forschungsaufenthalt in die Schweiz einzuladen sowie eigene wissenschaftliche Veranstaltungen in der Schweiz zu organisieren. Dadurch fördern und stärken die Beiträge von Scientific Exchanges die internationale Vernetzung der Forschenden in der Schweiz. Auch die ersten Luzerner Adventsgespräche, die kürzlich stattfanden, wurden von Scientific Exchanges gefördert.
Quelle: Newsmeldung vom 21. Dezember