Gotthard entfacht Fantasien
Boris Previsic: Ja, im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung stehen die Weltrekorde – zwei mehr in der notabene auch bereits davor rekordträchtigen Geschichte des Gotthards. Den ersten Zugang stellt daher zweifellos die Technik dar, was auch auf der Hand liegt: Die Vorstellung, mit 275 km/h durch den Tunnel zu rasen, wie es das Bild unten mit seiner Bewegungsunschärfe plastisch erfahrbar macht, berührt jede und jeden.
Tempo 275, 410 Meter lange Tunnelbohrmaschine, Ausbruchmaterial von 28,2 Millionen Tonnen – generell jagt eine Zahl die andere. Stimmig dazu: Auf der Gottardo2016-Website findet sich ein sekundengenauer Countdown bis zur Eröffnung.
Hier kommen die Kulturwissenschaften ins Spiel …
Diese sind gefordert, Erklärungsansätze für solche diskursiven Phänomene zu geben. Und zwar weniger als akademisch definierter Fachbereich, sondern im Sinne eines spezifischen analysierenden Blicks auf die Gesellschaft, welche ihre Gegenstände inszeniert. Entsprechend ist der Zugang, der für die Ringvorlesung im letzten Herbstsemester zum Thema und für den nun daraus entstandenen Sammelband auch bewusst interdisziplinär gewählt und schliesst politologische, ästhetische, historische sowie literatur- und kulturwissenschaftliche Perspektiven mit ein.
Von einem populären Standpunkt aus betrachtet vielleicht schon, aber "Mythos" schien mir in diesem Zusammenhang nicht geeignet, da zu eng gefasst: Mythen weisen immer ein klares historisches Datum auf, so auch im Fall des Gotthards. Dahinter stecken massive Konstruktionsleistungen und Gegennarrative, die es zu entdecken gilt.
Erzählen Sie mehr dazu.
Boris Previsic, Sie bezeichnen den von Ihnen herausgegebenen Band als "Blütenlese" – stellen Sie doch ein paar dieser "Blüten" und deren Stossrichtung vor.
Grundsätzlich macht die Vielfalt der fast dreissig Beiträge, davon mehrere von Angehörigen der Universität Luzern, das Gesamtbouquet aus. So zeigt zum Beispiel der Historiker Daniel Speich Chassé anhand von Eisenbahnführern der Jahrhundertwende das veränderte Dispositiv der Landschaftswahrnehmung vor dem Hintergrund der plötzlichen Beschleunigung der Reisegeschwindigkeit auf. Der Alpenhistoriker Jon Mathieu wiederum unterstreicht, wie unterschiedlich die zeitgenössische Innen- und Aussenperspektive auf die Alpen und insbesondere auf den Gotthard und damit wiederum auf die Schweiz als Exportprodukt ausfallen können.
Gemeinhin ist vom «Tor zum Süden» die Rede. Doch das ist ja alles eine Frage der Perspektive …
Exakt, deshalb kommt im Aufsatz von Marco Marcacci, Redaktor bei der Zeitschrift "Archivio Storico Ticinese", die oft vernachlässigte Tessiner Sicht zur Sprache. Und der in Sarajevo geborene Tessiner Politikwissenschaftler Nenad Stojanovic illustriert, von der eigenen Biografie ausgehend, wie der Gotthard als naturgesetzte Grenzlinie gleichwohl – jedenfalls, was den Eishockeyclub Ambrì-Piotta anbelangt – Integration im Inland ermöglicht. Erhellend fällt auch der Blick nach Osten aus: So befasst sich die Slavistin Anna Hodel mit einem Berg in Montenegro, der ähnlich mythisch aufgeladen ist wie der Gotthard, und der Osteuropa-Historiker Frithjof Benjamin Schenk verweist auf Bezüge des Gotthards zum russischen kulturellen Gedächtnis im Zusammenhang mit Suworows Feldzug. Zudem analysiert der Zeithistoriker Damir Skenderovic erstmals die Vereinnahmung des Gotthard-Mythos durch die neue Rechte vom Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart.
In Ihrem eigenen Beitrag beschäftigen Sie sich mit dem ureigenen Hort der Fantasie, der Literatur …
Es geht mir darum aufzuzeigen, dass Autorinnen und Autoren nach 1945 mit ihren literarischen Werken auf imaginativer Ebene immer wieder Gegenkonstruktionen zum vorherrschenden Gotthard- Mythos erarbeitet haben. Im Kinderbuch "Mein Name ist Eugen" (1955) von Klaus Schädelin etwa, das zurzeit als Musical ein Revival erlebt, wird auf subversive Art Klamauk mit den historischen Fakten betrieben. Und dies, da aus dem Mund von Kindern als Protagonisten kommend, quasi auf legitime Weise. "Die künstliche Mutter" (1982) von Hermann Burger geht einen Schritt weiter und betreibt eine regelrechte Um- und Neuschreibung: In seinem Roman reist ein geschasster Privatdozent zum Gotthard, da er sich in der dortigen unterirdischen Stollenklinik Heilung von seinem Mutterkomplex erhofft. Dies soll gelingen, wie er vernimmt, weil der Gotthard im Grunde weiblich sei und in der Hospizkapelle im Geheimen der "Mätresse Goda" gehuldigt werde. Hinzu kommt, dass die Klinik in Burgers Fiktion auf österreichischem Reichsboden liegt, wodurch der Gotthard seines urschweizerischen Nimbus beraubt wird.
Neben wissenschaftlichen – aber auch essayistischen – Beiträgen zum Thema finden sich im Sammelband auch literarische. Mit dem Wissen, dass Sie sich neben der Literatur wissenschaftlich und praktisch mit Musik auseinandersetzen, erstaunt das zwar nicht komplett, aber zumindest unüblich ist es doch. Warum dieser Entscheid?
Wie soeben aufgezeigt, schafft Literatur Möglichkeitsräume, die einen engen Bezug zu Realitätskonstruktionen auf- und damit auch auf denkbare Zukunftsszenarien vorausweisen. Es handelt sich um ein Erkenntnisinstrument, gleichberechtigt zu wissenschaftlichen und zu anderen Formen des Schreibens. Für mich persönlich stellt Literatur die dichteste Beschreibung dar, um weiterführende und zukunftsweisende Assoziationen freizulegen. Daher bin ich sehr froh, im Buch im Sinne von literarischen Einwürfen acht eigens für diesen Zweck verfasste Gotthard-Texte von Schriftstellerinnen und Schriftstellern – u.a. von Arno Camenisch [siehe Kontext-Element unten], Nora Gomringer, Peter Weber und Matteo Terzaghi – publizieren zu können.
Boris Previsic (Hrsg.): Gotthardfantasien. Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur. Baden 2016. ISBN 978-3-03919-388-2
*Mazzacauras bedeutet wörtlich übersetzt Geissentöter und steht für einen kalten, eisigen Frühlingsnordwind.
Quelle: uniluAKTUELL, das Magazin der Universität Luzern, Ausgabe 55, Mai 2016, S. 1–3.
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