Demokratisches Regieren – jenseits des Staates

Wichtige politische Entscheidungen werden immer häufiger von Institutionen und immer seltener von Nationalstaaten getroffen. Der Schweizerische Nationalfonds unterstützt Projekte mit vier Angehörigen der Universität Luzern zu diesem Thema.

Prof. Dr. Sandra Lavenex und Prof. Dr. André Bächtiger.

Globalisierung und zunehmender Einfluss der Medien als Herausforderung für die Demokratie im 21. Jahrhundert: Dieser Gegenstand steht im Fokus des vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) eingerichteten und an der Universität Zürich beheimateten nationalen Forschungsschwerpunkts NFS Demokratie (NCCR Democracy). Nach dem Startschuss im Jahr 2005 läuft seit dem letzten Herbst die dritte und letzte Phase, die bis Ende September 2017 dauert.

Luzern als Teil des Netzwerks

Mit einem Gesamtbudget von gegen 33 Millionen Franken und rund 60 beteiligten Personen aus den verschiedensten Disziplinen handelt es sich beim NCCR Democracy um ein Riesenprojekt. Ein Projekt, an dem seit Beginn als Netzwerkpartner auch das Politikwissenschaftliche Seminar der Universität Luzern beteiligt ist. In der nun gestarteten Schlussphase sind vier Luzerner Uni-Angehörige in Projekte involviert: Sandra Lavenex, ordentliche Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Internationale Beziehungen und Global Governance, ist beim Projekt "Demokratisches Regieren in und durch transgouvernementale Netzwerke" federführend. Dies gemeinsam mit Prof. Tina Freyburg von der University Warwick, unterstützt von Michael Buess, M.A., Lavenex’, Forschungsmitarbeiter.

Das Projekt "Deliberative Online-Experimente zu Mehrebenen-Governance-Institutionen" wird von
André Bächtiger, Inhaber der SNF-Förderprofessur für Politikwissenschaft "Deliberative Reforms" geleitet. Die Co-Leitung obliegt Prof. Dr. Marco Steenbergen von der Universität Zürich, als Doktorand ist Bächtigers Forschungsmitarbeiter Simon Beste, M.A., mit von der Partie. Sandra Lavenex ist zudem Mitglied des Vorstands des NCCR Democracy und trägt mit NCCR-Democracy-Direktor Prof. Dr. Daniel Kübler von der Universität Zürich die Verantwortung für das Modul "Formen des demokratischen Regierens jenseits des Staates", in dem die beiden genannten Projekte angesiedelt sind.

Keine Wahl durch das Volk

Was ist der rote Faden, der sich durch die total sieben Projekte dieses Moduls zieht? Sandra Lavenex führt aus: "Globalisierung führt dazu, dass politische Entscheidungen immer mehr von Institutionen auf internationaler, transnationaler, regionaler und lokaler Ebene getroffen werden und immer weniger von Staaten." Als Beispiele für solche neuen Entscheidungsgremien jenseits des Staates seien etwa die Europäische Union, die Welthandelsorganisation (WTO), Rating-Agenturen oder der Basler Ausschuss für Bankenaufsicht (BCBS), welcher Standards für die Stabilität des Bankensystems festlegt, zu nennen. Der springende Punkt: "Allen diesen häufig von Experten dominierten Entscheidungsgremien ist gemeinsam, dass sie nicht gewählt werden und darum nicht direkt von den Bürgern zur Rechenschaft gezogen werden können." Ziel der Forschungsprojekte sei es zu verstehen, unter welchen Bedingungen solche Organisationen demokratischer werden und welche Rolle dabei die Bürgerinnen und Bürger sowie die Medien spielen. Spannend: Bei sämtlichen sieben Projekten werden im Rahmen einer vergleichenden Studie Daten aus vier europäischen Ländern – Deutschland, Frankreich, England und der Schweiz – gesammelt und verarbeitet.

Sandra Lavenex befasst sich in ihrem eigenen Projekt mit transgouvernementalen Netzwerken – wie etwa dem oben genannten BCBS –, die zu wichtigen Akteuren in der europäischen und globalen Politik geworden sind und die Tätigkeit von Regierungen ergänzen oder sogar ersetzen. "Die Hauptfrage ist dabei, ob Bürger und Medien solche Institutionen anhand der gleichen Demokratievorstellungen beurteilen wie Staaten oder ob je nach Typ von Institution unterschiedliche Vorstellungen existieren", so die Professorin. Um dieser Frage nachzugehen, findet das Projekt von Lavenex in enger Koordination mit drei weiteren Projekten im Forschungsmodul statt, welche die Europäische Union, klassische internationale Organisationen und private Regulierungsinstanzen untersuchen. Auf der Basis eines gemeinsamen Analyserasters werden dabei in einem ersten Schritt die Demokratisierungsbemühungen der verschiedenen Institutionen selbst untersucht und verglichen. In einem zweiten Schritt werden in einer Meinungsumfrage die Einstellungen von Bürgerinnen und Bürger hinsichtlich dieser verschiedenen Institutionen sowie die Medienberichterstattung über diese Institutionen analysiert. Damit möchten die Forschenden nicht nur herausfinden, inwieweit sich die Demokratievorstellungen je nach Typ von Institution unterscheiden, sondern auch, inwieweit sich die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger in der Medienberichterstattung und der demokratischen Ausgestaltung dieser Institutionen widerspiegeln.

Diskutieren via Blog

Auch im Forschungsprojekt von André Bächtiger steht die Frage im Zentrum, ob und inwiefern nicht vom Volk gewählte Institutionen von Bürgerinnen und Bürgern als unzureichend demokratisch wahrgenommen werden und nach welchen Kriterien: "Die Forderung nach mehr Transparenz beispielsweise kommt teilweise ja beinahe schon reflexartig auf. Wer sich allerdings intensiv mit der Materie befasst, könnte womöglich zum Schluss kommen, dass Nichtöffentlichkeit nicht a priori schlecht sein muss." Damit kommt Bächtiger auf das Konzept der Deliberation zu sprechen: "Darunter ist Teilnahme und argumentativer Dialog der Bürger zu verstehen." Es sei davon auszugehen, dass durch vermehrte Deliberation die Legitimität politischer Entscheidungen in modernen pluralistischen, komplexen und globalisierten Gesellschaften erhöht werden kann, so Bächtiger. In einem Blog soll herausgefunden werden, was (nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten ausgewählte) Bürgerinnen und Bürger denken, wenn sie sukzessive mehr über die Thematik wissen, nachdenken und mit anderen Userinnen und Usern darüber diskutieren.

Mit Deliberation hat sich André Bächtiger in den beiden letzten Jahren auch in einem weiteren grösseren Projekt auseinandergesetzt. Als einziger Schweizer – und als einer von wenigen Europäern – arbeitete er bei der amerikanischen Taskforce «Negotiating Agreement in Politics» der American Political Science Association (APSA) mit. Der Schlussreport mit dem Kapitel «Deliberative Negotiation» ist kürzlich erschienen. Bächtiger: «Das Thema berührt das NCCR-Democracy-Projekt ganz direkt, da es bei beiden um Fragen von Transparenz und legitimem politischen Handeln geht.» 

 

Quelle: uniluAKTUELL, das Magazin der Universität Luzern, Ausgabe 46, Februar 2014.
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