"Demokratie braucht Störmomente"
Die Bedeutung des Fremden als Bedingung für eine freiheitliche demokratische Praxis: Diesem Thema geht Christine Abbt, SNF-Förderprofessorin für Philosophie, in ihrem aktuellen Forschungsprojekt mit ihrem Team auf den Grund.
Über das Vergessen, die Ethik des Erzählens, die Bedeutung der Sprachlosigkeit, die Wechselwirkung von Literatur und Philosophie, demokratische Freiheit und das Aufscheinen von Fremdem in den Künsten: Die Forschungsschwerpunkte von Christine Abbt umkreisen das Zusammenspiel von grösstmöglicher Individualität unter der Bedingung eines kooperativen Zusammenlebens, mit besonderem Fokus auf das Faszinosum Sprache. Wie auch bei früheren Arbeiten bewegt sich ihr Luzerner Projekt "Fremd- und Vieltuerei. Über die Verwirklichung demokratischer Freiheit in Formen des Nicht-Identischen" zwischen der Wissenschaft und den Künsten.
Christine Abbt, in der Schweiz wird das Fremde gerne kritisch beäugt. Wie lautet das Demokratieverständnis, das Sie Ihrem Forschungsprojekt zugrunde legen?
Christine Abbt: In der Präambel der Schweizerischen Bundesverfassung steht, dass frei nur sei, wer seine Freiheit gebrauche. Das ist eine äusserst spannende Formulierung, die darauf zielt, Freiheit als eine Praxis zu begreifen. Das heisst, Freiheit ist kein Zustand, sondern sie muss sich stets verwirklichen und bewähren. Wenn eine Gesellschaft von sich sagt, sie sei frei, ist es schwierig zu beurteilen, ob das stimmt, solange sie sich nicht tatsächlich als freie verhält: Zum Beispiel im Umgang mit denen, welche die Freiheit in Anspruch nehmen, die anders sind, kritisch sind, auffallen, stören. In diesem Moment wird Freiheit als Freiheit erprobt, wird sie zur anspruchsvollen Praxis, und es wird deutlich, wie eine Gesellschaft damit umgeht. Daher ist Demokratie in meinen Augen als ein Geschehen zu verstehen, das ständig durch alle Beteiligten ausgeübt wird – indem Freiheit als Praxis vollzogen wird. Eine freiheitliche Gesellschaft ist darauf angewiesen, dass es das Andere, das Störende, das Unkonventionelle gibt.
Kunstschaffende machen sich zur Aufgabe, dieses Andere loyal abzubilden. Inwieweit spielen die Künste dieser geschilderten demokratischen Praxis zu?
Demokratische Gesellschaften können nicht zur Ruhe kommen. Oder mit Jacques Derrida gesprochen: Demokratie ist stets "im Kommen". Eine selbstzufrieden in sich ruhende Gesellschaft neigt meines Erachtens zur Unfreiheit. Es braucht die Konfrontation mit Anderem und Neuem, es bedarf der Störmomente – und Künstler sind seit der Moderne solche Störenfriede. Es ist eine Eigenschaft von Künstlerinnen und Künstlern, das Gewohnte wieder fremd zu machen. Es ist u.a. auch deshalb richtig, Kunstschaffende staatlich zu fördern, ohne ihnen Einschränkungen aufzuerlegen. Die Stärke einer Demokratie und die sich darin verwirklichende Freiheit zeigen sich im Umgang einer Gesellschaft mit dem Fremden. Dass eine Gesellschaft bereit ist, diejenigen, die in irgendeiner Weise auffallen, nicht auszuschliessen, daran misst sich der Grad des Gelingens einer Demokratie.
Sie haben einige Publikationen und Kooperationen mit bildenden Künstlern wie beispielsweise Marc Bauer realisiert. Haben Sie an der Universität Luzern weitere Kooperationen mit Künstlerinnen und Künstlern geplant?
Ich bin mit verschiedenen Kunstschaffenden im Gespräch und würde diese gerne nach Luzern holen – die Universität ist meines Erachtens dafür durchaus der richtige Ort. Sie kann und soll Menschen aus verschiedenen Disziplinen und die Öffentlichkeit zusammenbringen und als Raum des freien offenen Gesprächs und des Experiments fungieren. Das ist für mich eine Idee, die man beleben sollte, wie die Freiheit, die man als Praxis ausübt.
Mit Ihrer Lizentiatsarbeit "Erzählen rettet Leben. Wirkungsweisen ethisch motivierten Erzählens im Erzählen" haben Sie die Weichen für spätere Forschungen gestellt. Was raten Sie Studierenden, um ihre Interessen freilegen und in ihrem Studium Akzente setzen zu können?
Nicht strategisch sein! Wenn man selbst überzeugt ist, dass das, was man macht, dass jene Fragen, die man stellt, wichtig sind und von Relevanz, dann ist man auch motiviert, nach Antworten und Lösungen zu suchen. Bei aller Skepsis gegenüber dem Bologna-System glaube ich, dass es nach wie vor möglich ist, die eigenen wissenschaftlichen Fragen zu formulieren und konsequent zu verfolgen. Dies verlangt aber heute wohl mehr Eigeninitiative als früher.
Sie haben bewusst die Universität Luzern für die Realisierung ihres SNF-Projekts gewählt.
Das Spannende in Luzern ist die Interdisziplinarität, die an anderen Unis nicht in demselben Mass realisiert ist. Dass man als Studierender die Möglichkeit hat, sich aus so vielen verschiedenen Fächern sein Curriculum zusammenzustellen, ist wirklich einzigartig. Ein anderer Aspekt betrifft die Ausrichtung des Philosophischen Seminars in Luzern. Die Unterscheidung in kontinentale bzw. analytische Philosophie wird hier nicht kultiviert. Im Zentrum stehen die philosophischen Texte und das Gespräch darüber, inwiefern diese Texte weiterführende Anstösse und Ideen liefern und das Denken differenzieren und schärfen.
Christine Abbt spielt als öffentliche Intellektuelle ihrem Verständnis einer bewegten demokratischen Gesellschaft aktiv zu. Von ihren Mitarbeitenden erwartet die Förderungsprofessorin das Einstehen für die eigenen Forschungsinteressen. Zum Forschungsteam von Christine Abbt gehören die beiden Doktorierenden Susanne Schmieden und Nahyan Niazi sowie die Hilfsassistentin Daniela Herzog. Susanne Schmieden beschäftigt sich in ihrer Dissertation, ausgehend von Denis Diderot und Bertolt Brecht, mit der politischen Bedeutung des Schauspielers; Nahyan Niazi untersucht in seinem Doktorat, basierend auf Wilhelm von Humboldt, die Funktion des Fremden für die Verwirklichung des Selbst.
Quelle: uniluAKTUELL, das Magazin der Universität Luzern, Ausgabe 52, September 2015.
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