Krisen und der Aufruf gegen die Resignation
Die Otto-Karrer-Vorlesung 2022 der Schweizer Schriftstellerin Melinda Nadj Abonji am 28. September in der Jesuitenkirche traf dort, wo es wehtut. Wenn etwas aus dem Ruder läuft, wenn es nicht mehr so ist, wie es lange war und für gut befunden wurde, ist die Gesellschaft herausgefordert. Aber wie reagieren Menschen auf Krisen im grossen Stil?
Melinda Nadj Abonji stellte ihren Vortrag unter den Titel «Was Krisen uns erzählen». Und sie erzählte, stellte Fragen, erläuterte Aktion und Reaktion auf aktuelle und nur vermeintliche vergangene Krisen ihren über 250 Zuhörerinnen und Zuhörern.
Krisen und ihre Sprache
Das tat die mehrfach ausgezeichnete Autorin, Textperformerin und Musikerin mal poetisch, mal politisch (und sparte dabei nicht mit Kritik an Bundesrats- und Parlamentsmitgliedern), dann wieder sprachwissenschaftlich oder ganz persönlich. Doch der Bedeutung des Wortes folgend, blieb sie nicht bei der Kritik stehen, sondern forderte dazu auf, eine Krise als Ganzes zu sehen: deren Vorgeschichte, den Höhepunkt, der vom einzelnen Menschen wie von der Gesellschaft eine Reaktion erfordert, und auch das Danach nicht aus den Augen zu verlieren.
In Krisenzeiten, so die Referentin, kommt der Kommunikation eine noch grössere Bedeutung zu, als im Alltag an sich. Wie schnell es dabei zu Missverständnissen kommen kann, zeigte sie an Beispielen des Kriegs gegen die Ukraine und dessen Folgen, des Klimawandels und den teils gegensätzlichen Reaktionen darauf, aber auch an der Art und Weise, wie heute über die Folgen der Massnahmen zur Eindämmung der Covid-Pandemie gesprochen wird. Wo Begriffe bewusst verdreht, Ursachen geleugnet oder Folgen schöngeredet werden, so Nadj Abonji, zeige sich auch eine Krise der Sprache. Hier werde das Sprechen über Krisen zu Machtmissbrauch.
Umgehen mit der Krise
Das, was nach der Krise komme, sei anders als das Vorher. Auf deren Höhepunkt brauche es Auseinandersetzung, die Bereitschaft zum Dialog, zum einander Zuhören. Entscheidungen, die hier getroffen werden, sind ihrer Erfahrung nach oft irrational. Auch wenn sie lange überlegt werden. Darum brauche es danach auch eine Zeit der Trauer und der Anteilnahme. Etwas, das die Referentin während der Covid-Pandemie von Entscheidungsträgern vermisst hat.
Dem Nützlichkeitsdenken hält sie darum die Poesie als Ort und Gelegenheit entgegen, aus dem Neues entstehen kann. Das führt viel weiter als das umgangssprachlich verwendete Bild «aus Fehlern kann man lernen». Für Melinda Nadj Abonji ist die Krise ein Wendepunkt. Die Zeit – vorher, mittendrin und nachher – ist und bleibt von Bedeutung.
Aufeinander zugehen und voneinander lernen
Die diesjährige Otto-Karrer-Vorlesung machte deutlich, wie gross die Spannung zwischen der laut postulierten Eigenverantwortung und einer Solidarität ist, die diesen Namen verdient. Und hier lässt sich ein Bogen spannen zu Otto Karrer (1888–1976), dem grossen Luzerner Ökumeniker vor der Zeit. Er war – mit Blick auf die Erneuerung der Kirche – davon überzeugt, dass Ökumene nur gelingen kann, wenn eine Bereitschaft vorhanden ist, voneinander zu lernen, wie es Professorin Nicola Ottiger, Leiterin des Ökumenischen Instituts Luzern, zu Beginn der Vorlesung ausgedrückt hat.
Auf dem Höhepunkt von Krisen wissen wir nicht, wie es weitergeht, stellte Melinda Nadj Abonji fest. Wie gut die im Laufe der Krise gefällten Entscheidungen sind, lässt sich zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Aufeinander zugehen und voneinander zu lernen im Moment der Krise dürfte dabei hilfreich sein, ja, müsste gefordert werden. Und dazu folgte auch ein Apell der Referentin, nach der Krise nicht einfach weiterzumachen wie bisher, sondern hinzuschauen wer wie entschieden hat. Ein Aufruf gegen die Resignation.
Martin Spilker
Über die Referentin
Melinda Nadj Abonji, geboren 1968 in der Vojvodina, Studium der Germanistik und Geschichte in Zürich, wurde unter anderem für ihren Roman „Tauben fliegen auf“ mit dem Deutschen und dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet und erhält dieses Jahr den Erich-Fried-Preis der Republik Österreich.