Strafrecht als Mittel der Erdbebenprävention und Folgenbewältigung
Internationaler Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Praxis an den Rechtsfakultät der Universitäte Bilim in Antalya anlässlich der Erdbebenkatastrophe 2023 in der Südosttürkei
Darlegung und Diskussion der Rolle des Baustrafrechts in der Erdbebenvorsorge sowie Feststellung künftigen Forschungsbedarfs
Thema
Am 6. Februar 2023 ereignete sich in der der Südosttürkei und in Nordwestsyrien eine Erdbeben-Doublette mit zahlreichen Nachbeben, die Städte und Dörfer zerstörte und neben ungezählten Verletzten zehntausende Todesopfer forderte.
Hilfsaktionen starteten unmittelbar nach Bekanntwerden des Ausmasses der Katastrophe und auch ein halbes Jahr später erfolgen Aufräum- und Aufbauarbeiten, die für die betroffenen Menschen neue Gesundheitsgefahren verursachen. Dies durch einsturzgefährdete Häuser, die Ablagerung von kontaminiertem Bauschutt und Staubentwicklung.
Gesprächspartner aus dem Erdbebengebiet berichten, es seien nicht die Beben die töten, sondern mangelhaft errichtete Gebäude.
Auch die Schweiz liegt in einer von Erdbeben betroffenen Region; gemäss dem Schweizer Erdbebendienst hat Basel ein «überdurchschnittlich hohes Erdbebenrisiko». Erdbeben- oder – allgemein – Katastrophenprävention ist im Wesentlichen Aufgabe des öffentlichen Rechts zu dem auch das Verwaltungs- und das Strafrecht zählen. Aus verwaltungs- bzw. baupolizeirechtlicher Perspektive geht es um Erdbebenverhütung, indem z.B. in gefährdeten Gebieten gar nicht oder nur unter Einhaltung technischer Bauvorschriften gebaut werden darf. Hinzu kommen Vorschriften der Katastrophenvorsorge und -bekämpfung. Dies in Gestalt von Notfallplänen und Richtlinien für die Aus- und Fortbildung von Einsatzkräften sowie die Anschaffung von Material und die Bereitstellung von Infrastruktur (z.B. Rettungsfahrzeuge, mobile Krankenhäuser, Notunterkünfte) bis hin zur Sicherung von einsturzgefährdeten Gebäuden usw.
Diese Ebenen eines «Katastrophenverwaltungsrechts» werden begleitet von einem Baustrafrecht. Denn wenn verwaltungsrechtlich notwendige (Bau-)Massnahmen nicht getroffen werden und deshalb Folgen eines Erdbebens nicht verhindert oder wenigstens reduziert werden, stellt sich die Frage, wer dafür – strafrechtlich – zur Verantwortung zu ziehen ist, so aktuell auch in der Türkei:
«Zuallererst müssen Personen und/oder Unternehmen, die durch ihr fahrlässiges oder vorsätzliches Handeln oder Unterlassen den Tod dieser Menschen verursacht haben, zur Verantwortung gezogen werden. Eine staatsanwaltschaftliche Ermittlungswelle ist schon aufgebrochen» (vgl. Doz. Dr. iur. Ercan Yasar LLM, Erdbeben in der Türkei mit rechtlichem Aspekt, 11.02.2023).
Die drohenden repressiven Folgen sind zugleich Anreiz dafür, notwendige (Bau-)Massnahmen präventiv zu treffen: Wer Strafe fürchten muss, wird sich eher bemühen, die Regeln der Baukunde zwecks Erbebenvorsorge und -sicherung einzuhalten. (Auf einer weiteren Ebene stellt sich die Frage der zivilrechtlichen Haftung für Personen-, Sach- und Vermögensschäden.)
Im Fokus des Schweizer Baustrafrechts steht Art. 229 des Strafgesetzbuchs (StGB). Danach ist die Gefährdung von Leib und Leben durch die Ausserachtlassung anerkannter Regeln der Baukunde bei der Leitung oder Ausführung eines Bauwerks oder eines Abbruchs strafbar. Im Sinne einer Vorverlagerung der Strafbarkeit genügt bereits die fahrlässige Gefährdung eines anderen; vorsätzliches Handeln und eine Rechtsgutsverletzung (betr. Körper, Gesundheit, Leben) werden nicht vorausgesetzt.
Zum einschlägigen Baustrafrecht zählen ausserdem folgende Bestimmungen des Kriminalstrafrechts (StGB): Gefährdung des Lebens (Art. 129), Tötung (Art. 111, 117), Körperverletzung (Art. 122-125), Verursachung einer Feuersbrunst oder Explosion (Art. 222 f.), Verursachung einer Überschwemmung oder eines Einsturzes (Art. 227), Beschädigung von elektrischen Anlagen, Wasserbauten oder Schutzvorrichtungen (Art. 228), Beseitigung oder Nichtanbringung von Sicherheitsvorrichtungen (Art. 230), Verunreinigung von Trinkwasser (Art. 234), Störung des öffentlichen Verkehrs (Art. 237), Störung von Betrieben, die der Allgemeinheit dienen (Art. 239).
Stets ist schon sorgfaltswidriges (fahrlässiges) Verhalten (aktives Tun oder Unterlassen) strafbar und u.U. ist auch ein Unternehmen strafrechtlich haftbar (Art. 102). Ergänzt werden diese Bestimmungen durch Strafvorschriften des Nebenstrafrechts, bspw. des Umweltstrafrechts.
In der Schweiz existiert mit dem Baustrafrecht folglich ein Mittel Erdbebenprävention und repressiven Folgenbewältigung. In der Türkei hat Prävention nicht funktioniert, zu viele Gebäude sind nicht erdbebensicher errichtet worden. Ob Repression als Folgenbewältigung gelingt, wird sich in der Türkei erst zeigen müssen. Die Ausgestaltung baustrafrechtlicher Instrumente zur Erdbebenvorsorge und Folgenbewältigung ist deshalb Thema des geplanten internationalen Austauschs an zwei Rechtsfakultäten in der Türkei.
Grund und Ziel des Austauschs
Die Schweizer Rechtsordnung verfügt zur Erdbebenprävention und Folgenbewältigung – neben verwaltungs- und zivilrechtlichen Instrumenten – über ein ausdifferenziertes Baustrafrecht, welches zu dessen Durchsetzung von einem wirkungsvollen Verfahrensrecht flankiert wird.
Vor diesem Hintergrund wurde der Antragsteller von Herrn RA Dr. iur. Ramazan Baris Atladi, Forschungsmitarbeiter und Dozent an den Universitäten Akdeniz (Antalya) und Gaziantep, sowie von Herrn RA Kerem Öz, Direktor des Forschungszentrums für Rechtsvergleichung der Antalya Bilim Universität angefragt und eingeladen, einen Austausch mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wissenschaft und Praxis über die Wirkungsweise des Baustrafrechts in der Erdbebenvorsorge mitzugestalten. Dies mit dem Ziel, Erfahrungen auszutauschen, Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Strafrecht in der Erdbebenprävention und Folgenbewältigung zu erkennen sowie Entwicklungsmöglichkeiten auszuloten, die Gegenstand einer weiteren Forschungszusammenarbeit sein können. Vgl. dazu auch die diesem Antrag beigefügte Absichtserklärung für eine entsprechende Forschungszusammenarbeit.
Austauschformate
Neben einer Vor-Ort-Visite im betroffenen Erdbebengebiet rund um die Grossstadt Gaziantep wird im Rahmen von Vorträgen an den Rechtsfakultäten der Universitäten Akdeniz (Antalya) und Gaziantep die Wirkungsweise des Baustrafrechts in der Erdbebenvorsorge und Folgenbewältigung beleuchtet. In einem Diskussionsforum wird eruiert, welche Konsequenzen sich für die jeweils eigene Rechtsordnung ergeben können und welcher gemeinsame Forschungsbedarf sich daraus ableiten lässt.
Teilnehmende
Von der Universität Luzern:
- Prof. Dr. iur. Andreas Eicker, Ordinarius für Strafrecht, Strafprozessrecht, Kriminologie und Internationales Strafrecht. Seitens des Antragstellers besteht bereits eine Forschungszusammenarbeit mit der Rechtsfakultät der Akdeniz Universität; zudem hat der Antragsteller Lehr- und Vortragstätigkeiten an den Universitäten Akdeniz und Bilim (Antalya), Özyegin (Istanbul) sowie an der Deutsch-Türkischen Universität (Istanbul) und am Orient-Institut in Istanbul wahrgenommen.
Vortrag und Diskussion: «Das Schweizer Baustrafrecht – Herausforderungen der Fahrlässigkeitshaftung»
- RA Ass.iur. Fabian Brand, Doktorand am Lehrstuhl von Prof. Eicker. Er absolvierte bereits rechtsvergleichende Studien-, Forschungs- und Vortragsaufenthalte an der Universität Istanbul und der Akdeniz Universität sowie am Orient-Institut in Istanbul und am Schweizerischen Institut für Rechtsvergleichung in Lausanne.
Herr Brand spricht Türkisch und ist – neben von den vorerwähnten Erfahrungen – auch deshalb eine unverzichtbare Unterstützung für den geplanten wissenschaftlichen Austausch.
Vortrag und Diskussion: «Erdbebenfolgenprävention durch Gefährdungsstrafrecht: Zum Begriff der Gefahr im Baustrafrecht unter besonderer Berücksichtigung des Straftatbestandes der Baugefährdung nach Art. 229 chStGB»
- MLaw Michael Hodel, Doktorand am Lehrstuhl von Prof. Eicker.
Vortrag und Diskussion: «Die Schweiz - auch ein Erdbebengebiet? Zur Gefahrensituation und zu baupolizeilichen Vorgaben»