Fragen an Anton Bilokon, Jus-Student in der Ukraine
Der Ukrainer Anton Bilokon ist 21 Jahre alt und absolviert an der Universität Lviv einen Master in International Law. Im Frühjahrssemester 2022 nimmt er via Zoom an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern an der Lehrveranstaltung «International Humanitarian Law» von Prof. Martina Caroni teil.
Der Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine begann am 24. Februar 2022 und dauert zum Zeitpunkt des Interviews nun schon sieben Wochen. Wie geht es Ihnen zurzeit?
Anton Bilokon: Die russische Grossinvasion trifft kritische Infrastruktur und die Wirtschaft der Ukraine hart, vor allem aber trifft sie die ukrainische Bevölkerung schwer. Die Menschen hier hatten keine Vorstellung davon, was ein Krieg bedeutet und welche Grausamkeiten er mit sich bringt. Sie stellten sich jedoch von Anfang an den Herausforderungen und werden auch weiterhin mit grösstem Einsatz dafür kämpfen, die damit einhergehenden Schwierigkeiten zu überwinden. In den ersten Kriegswochen stellte sich die Ukraine auf die neue Situation ein und konzentrierte sich darauf, die Landesverteidigung und die militärische Schlagkraft zu erhöhen. Es bildeten sich grosse Freiwilligennetzwerke, die Zivilbevölkerung tat sich zusammen, um den vom Krieg betroffenen Menschen zu helfen. Während meines Einsatzes in der Freiwilligenarbeit beim Roten Kreuz sah ich, wie die Menschen zu uns kamen und alles spendeten, was sie nur konnten – Lebensmittel, Basismedikamente, Hygieneartikel und Kleidung. Als Bürger meines Landes spüre ich den grossen Zusammenhalt, der unter uns entstanden ist, um die Ukraine gegen die russische Invasion zu verteidigen.
Für mich persönlich hat die Invasion viel Negatives mit sich gebracht, am schmerzlichsten ist die Trennung von geliebten Menschen. Das ganze Land bleibt der Gefahr von erneutem Raketenbeschuss und einem zweiten Angriffsversuch auf Kiew ausgesetzt. Ich bleibe aber zuversichtlich, dass am Ende die Zivilisation über die Barbarei siegen wird.
Wie informieren Sie sich im Alltag? Welche Medien nutzen Sie?
Zeitgleich mit Beginn der grausamen Invasion stellte sich auch die Frage des Umgangs mit den Medien; insbesondere natürlich zu Inhalt und Qualität von Informationen, die über die Massenmedien verbreitet werden. In den ersten Tagen nach Kriegsbeginn tauchten zahlreiche Fake-Gruppen und Links auf, die einzig zum Ziel hatten, Panik, Frustration und Verwirrung zu stiften. Die ukrainischen Behörden leisteten diesbezüglich tolle Arbeit. Sie wiesen die Bevölkerung immer wieder darauf hin, wie wichtig eine sorgfältige und kritische Beurteilung der Informationen ist, die konsumiert und weitergegeben werden. Und sie rieten insbesondere, einzig die offiziellen Informationskanäle zu benutzen.
Nichtsdestotrotz informiere ich mich sowohl über die offiziellen als auch über internationale unabhängige Medien wie beispielsweise die BBC (wo rund um die Uhr die neuesten Meldungen über die Invasion auffindbar sind) oder die New York Times. Zudem ignoriere ich Medien mit einem zweifelhaften Ruf sowie natürlich sämtliche russischen Medienkanäle. So erhalte ich nützliche Informationen aus einem möglichst objektiven Blickwinkel.
Ist die Universität Lviv, an der Sie studieren, offen? Können Sie wie geplant weiterstudieren? Was hat sich am Studium seit Kriegsbeginn verändert?
Mit dem Beginn der Invasion schlossen alle Bildungsinstitutionen der Ukraine während zwei Wochen. Danach starteten die Universitäten mit einem auf die Kriegssituation angepassten Angebot. Unter normalen Umständen müssen Studierende an ukrainischen Universitäten Seminare zu jedem Fach besuchen und dort ihre Kenntnisse unter Beweis stellen. Zusammen mit der Prüfung ergibt das die Endnote für das jeweilige Fach. Aufgrund des Krieges sind Studierende nun nicht mehr verpflichtet, die Seminare zu besuchen, sofern sie einen Nachweis über einen Einsatz in der Armee oder Freiwilligenarbeit erbringen. Das universitäre Studienangebot bleibt jedoch im gleichen Umfang bestehen wie vor Kriegsausbruch, das heisst, Professorinnen und Professoren halten ihre Seminare auch dann, wenn nur ein oder zwei Studierende anwesend sind.
Ich schätze dieses Engagement der Universitäten und der Professorenschaft sehr hoch. Es demonstriert das Interesse und die Bereitschaft, uns Studierende in diesen schwierigen Zeiten zu unterstützen.
Ich persönlich plane nach wie vor, mein Studium Anfang 2023 mit dem Masterdiplom abzuschliessen. Danach möchte ich im Bereich des Internationalen Völkerrechts tätig werden. Ich bin überzeugt, dass aufgrund der russischen Invasion der Ukraine, Spezialistinnen und Spezialisten auf dem Gebiet des Internationalen Völkerrechts dringend benötigt werden, insbesondere um das internationale Rechtssystem zu aktualisieren und Kriegsverbrechen zu ahnden.
Was können Universitäten anderer Länder tun für ukrainische Studierende, die in der Ukraine sind? Und was können sie für ukrainische Universitäten tun?
Für mich ist es von grossem Nutzen, wenn ich als ukrainischer Student freien Zugang zu den Unterrichtsmaterialien anderer Universitäten habe und an Lehrveranstaltungen teilnehmen und mitdiskutieren kann. Ich schätze es sehr, in Kursen zum Internationalen Humanitären Völkerrecht von Prof. Martina Caroni teilnehmen zu können. Dies gibt mir die Möglichkeit, für kurze Zeit den Krieg zu vergessen und wieder ein ganz normaler Student mit dem Wunsch nach Wissen zu sein. Ich denke, dass es für beide Seiten auch von grossem Interesse und Nutzen sein könnte, wenn ukrainische Studentinnen und Studenten an einzelnen Forschungsprojekten an ausländischen Universitäten teilnehmen könnten.
Generell wird eine Stärkung der partnerschaftlichen Beziehungen zwischen ukrainischen und ausländischen Universitäten einen positiven Einfluss auf das akademische Wohlergehen in der Ukraine ausüben.
Haben Sie Familie? Wo halten sie sich zurzeit auf und wie geht es ihnen?
Ich habe eine sehr grosse Familie. Wir leben alle in Vinnytsia [eine Stadt ca. 250 km südwestlich von Kiew; Anm. der Red.] und möchten auch hier bleiben. Natürlich flüchten seit Kriegsbeginn viele Menschen aus der Ukraine. Meist sind dies alte Leute, Frauen und Kinder, Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land zurzeit nicht verlassen. Meine Familie gehört zu den Menschen, die ihr Land über alles lieben, und wir werden hier bleiben und uns weiterhin für die Landesverteidigung und das wirtschaftliche Wohlergehen der Ukraine einsetzen.
Was sollten Ihrer Meinung nach die westlichen Länder mehr tun, um die Ukraine in diesem Krieg zu unterstützen?
Ein Vergleich zeigt schnell, dass die russische Armee über ein Mehrfaches an militärischen Mitteln verfügt als die ukrainische. Ich würde mich deshalb erstens sicherer fühlen, wenn Europa (und nicht nur Europa) die militärische Ausrüstung schicken würde, die nötig ist, damit unsere Armee unser Territorium angemessen gegen die Invasoren verteidigen kann. Und zweitens würden Sicherheitsgarantien, die nicht nur von der Ukraine, sondern auch von Europa gegeben werden müssten, weitere Angriffe von russischer Seite verhindern. Denn ich sehe diesen Krieg als einen Krieg der Ideologien. Und weil die Ukraine sich weiter in Richtung Westen bewegt, wird Russland nicht aufhören zu versuchen, genau das zu verhindern.
Wie wird dieser Krieg Ihrer Meinung nach enden?
Wie jeder Krieg wird auch dieser Krieg enden, und in Kriegen gibt es nie Gewinner. Es bleibt enorm viel zu tun, jetzt und danach. Ich glaube, dass diese Grossinvasion und der Krieg nur mit Diplomatie und nicht mit Waffen gestoppt werden können. Ich bin sehr zuversichtlich, dass es zu einem Friedensabkommen kommen und Russland unter anderem zu Reparationszahlungen an die Ukraine verpflichtet wird.
Die Fragen stellte Dr. rer. soc. Stefan Bosshart, Stellvertretender Fakultätsmanager der Rechtswissenschaftlichen Fakultät
(Übersetzung aus dem Englischen: Nicole Fischer, Kommunikation Rechtswissenschaftliche Fakultät)