Gesellschaftlicher Zusammenhalt in der Schweiz
Wie und was hält Gesellschaft zusammen? Dies ist seit ihren Anfängen eine der Kernfragen sozialwissenschaftlicher Forschung. Die vielschichtige Krise der Gegenwart aus Klimawandel, Corona, Ukraine-Krieg und Energiemangel verschafft dieser Frage eine ganz neue Brisanz. Sie ist eine der zentralen Zukunftsfragen für die Schweizer Gesellschaft sowie unsere Demokratie schlechthin. Welche Faktoren tragen zum Zusammenhalt bei? Wann und warum fühlt sich jemand zugehörig – und zu was? Welche Rolle spielen dabei Religion, Wirtschaft und Politik? Diese Fragen sind zentral, wenn wir verstehen wollen, warum Gesellschaften zusammenhalten – oder auseinanderbrechen. Genau hier setzt das neue Projekt des Zentrums für Religion, Wirtschaft und Politik (ZRWP) der Universität Luzern an.
Forschungsprojekt
Wie hält unsere Gesellschaft heute und morgen zusammen? Wer trägt was zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei? Und was führt zu Trennung und zerstört gesellschaftlichen Zusammenhalt? Diese sozialwissenschaftlichen Kernfragen werden mit der Entwicklung eines «Schweizer Modells für gesellschaftlichen Zusammenhalt» bearbeitet und beantwortet. Das Modell wird nach aktuellstem Forschungsstand entwickelt, überprüft und in die Praxis überführt. Mit dem «Schweizer Modell für gesellschaftlichen Zusammenhalt» erhalten Entscheidungsträgerinnen und -träger ein praxistaugliches Instrument, wie sie gesellschaftlichen Zusammenhalt stützen und damit zum Gelingen unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft beitragen können.
Das Projekt befindet sich in der Start- und Aufbauphase. Neben der inhaltlichen Vorbereitung geht es im wesentlichen darum, Drittmittel einzuwerben. Dazu hat die Stiftung der Universität Luzern das Projekt als eine von vier Intiativen in ihr Fundraising-Portfolio aufgenommen. Eine Anschubfinanzierung durch die Hofstetter Stiftung und die Forschungskommission ermöglicht die Erarbeitung der Grundlagen für weitergehende empirische Forschungen und entsprechende Drittmittelanträge.
Mit dem «Schweizer Modell für gesellschaftlichen Zusammenhalt» erhalten Entscheidungsträger:innen in Politik, Wirtschaft, Religion und Zivilgesellschaft ein konkretes, getestetes Modell, wie sie gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern und damit zum Gelingen unserer Gesellschaft und zu einer effizienten Volkswirtschaft beitragen können. Von einem intakten gesellschaftlichen Zusammenhalt profitiert allen voran auch die Schweizer Wirtschaft, da Kooperation und Zusammenarbeit effizienter ausgestaltet werden können. Zudem stärkt das Projekt die Schweiz als führenden Wissenschaftsstandort.
Wissen, News und Publikationen
Fachartikel, Beiträge und News des Forschungsteams die zum vorliegenden Forschungsprojekt geführt haben und dazu beitragen.
GSL-Workshop für Doktorierende und öffentliche Vorlesung von Prof. Dr. Jan Germen Janmaat zu "Regimes of Social Cohesion and Citizenship" am 9. Oktober 2024.
Öffentliche Vorlesung
Eine Anschubfinanzierung durch die Hofstetter Stiftung und die Forschungskommission ermöglicht die Erarbeitung der Grundlagen für weitergehende empirische Forschungen und entsprechende Drittmittelanträge.
Liberale Demokratien scheinen unter Druck zu stehen. Identitätspolitik, so eine häufige Vermutung, löst den sozialen Zusammenhalt und die Unterstützung für die Demokratie auf. Insbesondere religiöse Identitäten werden als anfällig für soziale Abgrenzung und spaltende Konflikte angesehen. Die Polarisierung auf der Grundlage sozialer Identitäten scheint sich vom Alltagsleben über die Zivilgesellschaft bis hin zur politischen Gemeinschaft zu erstrecken. Im Beitrag (Open Access) untersuchen Antonius Liedhegener, Anastas Odermatt gemeinsam mit Gert Pickel und Yvonne Jaeckel der Universität Leipzig, welche Bedeutung religiöse Identität(en) und speziell Religion als soziale Identität für gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Unterstützung liberaler Demokratien in pluralistischen Gesellschaften haben. Durch einen interdisziplinären Ansatz und die Kombination der Theorie Sozialer Identitäten (SIT), der Sozialkapitaltheorie und der Vorurteilstheorie wird anhand der Daten des KONID Survey 2019 zu Deutschland und der Schweiz und einer Serie multipler linearer Regressionsanalysen dieser Frage nachgegangen.
In diesem Open-Access-Buch unterzieht Anastas Odermatt die weitverbreitete Annahme, dass sowohl Religion als auch freiwilliges Engagement förderlich für soziales Vertrauen und damit für gesellschaftlichen Zusammenhalt und Demokratie seien, einer empirischen Überprüfung. Wirkt Religion eher konflikthaft und negativ auf unsere Gesellschaft oder wirkt sie eher brückenbildend, stabilisierend und damit positiv?
Die Zuordnung von Religion und Gesellschaft ist komplex und historisch hoch variabel. Wurde in jüngerer Zeit von der Forschung zunächst die Rückkehr der Religion diskutiert, so rücken gegenwärtig die Leistung, Funktion und Problemzonen von Religion für gesellschaftliche Integration sowie speziell ihre Rolle in der neuen, polarisierenden Identitätspolitik in den Mittelpunkt. Im Beitrag geht Antonius Liedhegener basierend auf den Daten des KONID Survey 2019 der Rolle verschiedener religiöser Identitäten in bestimmten Bereichen und Problemzonen des gesellschaftlichen Zusammenlebens nach.
Politik und Religion in der Moderne – das ist das Wechselverhältnis zweier komplexer Größen. Der Fachartikel von Prof. Dr. Antonius Liedhegener macht ausgehend vom Forschungstand für die Schweiz dieses Wechselverhältnis anhand von aktuellen Befragungsdaten in seiner Komplexität in der Bevölkerung und Wählerschaft sichtbar.
In seiner Masterarbeit untersucht Milan Weller die Rolle der Religion in der Schweizer Gesellschaft. Die Studie wurde vom Springer-Verlag ausgezeichnet und in das Verlagsprogramm aufgenommen.
Der Fachbeitrag von Prof. Dr. Antonius Liedhegener (Open Access) wirft anhand der Daten des Religionsmonitors 2017 einen differenzierten Blick auf die religiöse Vielfalt der auch sonst sehr vielschichtigen Schweizer Gesellschaft. Die Zugehörigkeit zu alten wie neuen Religionsgemeinschaften und die Religiosität ihrer Mitglieder werden herausgearbeitet. Davon ausgehend werden verschiedene Zusammenhänge des religiösen Bereichs mit anderen mehr oder weniger säkularen Teilbereichen in der ‚Ich-Gesellschaft‘ untersucht. Mit einem systemtheoretischen Ansatz und einem empirischen Zugriff wird die Frage beantwortet, wo sich welche religiösen Bezüge im Alltag und im gesellschaftlichen Miteinander ausmachen lassen, wie stark diese sind und welche Qualität sie haben. Insbesondere werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den unterschiedlichen religiösen Traditionen und ihren Mitgliedern sowie jenem Teil der Gesellschaft, der sich selbst keiner Religionsgemeinschaft zuordnet, in religiöser wie gesellschaftlicher Hinsicht dargestellt. Erstmals werden zudem die religionspolitischen Implikationen der aktuellen religiösen Vielfalt auf einer empirischen Datenbasis herausgestellt. Um einer Verwandlung der Schweiz von einer Willensnation in eine ‚Wir-Nation‘ und der sich abzeichnenden religionspolitischen Handlungsblockade zu entgehen, wird vorgeschlagen, die produktiven Potenziale der Schweizer Religionsgeschichte und insbesondere die Überwindung der langen konfessionellen Spaltung der Schweizer Gesellschaft als Lerngeschichte für ein neues Miteinander in religiöser Vielfalt stärker in den Blick zu nehmen.
Identitätspolitik ist in aller Munde, doch an profunden quantitativen Untersuchungen mangelt es. Eine Studie schafft verlässliche Daten und zeigt unter anderem: Zentral für das «Ich» und «Wir» der Schweizerinnen und Schweizer ist die Familie.
Zum COGITO-Beitrag von Antonius Liedhegener und Anastas Odermatt (Open Access)
Im Lexikonartikel führt Antonius Liedhegener in das weite Feld von "Religion und Gesellschaft" ein. Diskutiert werden einschlägige Theorie und Befunde, die Frage nach Gesellschaftlichem Konflikt und Konsens, sowie das Themenfeld der Religion- und Identitätspolitik.
Immer wieder werden Bezüge zwischen Religion und Vorurteilen hergestellt. Zum einen dienen religiöse Gruppen als Ziel von Vorurteilen, zum anderen wird debattiert, inwieweit der Wahrheitsanspruch von Religionen religiöse Menschen für Vorurteile anfälliger macht. Im Fachartikel werden mithilfe des aktuellen KONID Survey 2019 beide Fragen empirisch und Ländervergleichend untersucht. Trotz einzelner Abweichungen in Ausprägungen und Bezügen von Vorurteilen, sind die Strukturen der Vorurteile, ihre Erklärung sowie ihre demokratischen Auswirkungen in Deutschland und der Schweiz sehr ähnlich. Religionsgemeinschaften und ihre Mitglieder geraten vor allem aufgrund von Bedrohungsängsten in der Bevölkerung, aber auch Verschwörungstheorien und autoritären Einstellungen in den Fokus von Vorurteilen. Dabei wirkt eine dogmatische, exklusivistisch gedachte und teilweise fundamentalistische religiöse Identität als Vorurteile befördernd, während eine liberale religiöse Identität Antisemitismus, antimuslimischen Rassismus, aber auch Antiziganismus und die Ablehnung von Nichtbinären Geschlechteridentitäten entgegenwirkt.
Religion als soziale Identität ist für 50 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz und für 57 Prozent in Deutschland wichtig. Wie erste Ergebnisse einer repräsentativen Umfrage von Forschenden der Universitäten Luzern und Leipzig zeigen, kann Religion trennen, aber auch verbinden. Gesamtgesellschaftlich wirkt Religion zudem strukturierend für unterschiedliche Typen sozialer Identität.
Zum News-Beitrag zu den Erstergebnissen des KONID Survey 2019
Zum Forschungsreport in Deutsch (Open Access)
Identität ist ein Zauberwort der Gegenwart. Der Wunsch nach «Zugehörigkeit» bewegt. So spielt für viele Menschen auch Religion immer dann eine wichtige Rolle, wenn es gilt, zu sagen, wer man ist. Dies zeigen die Ergebnisse eines deutsch-schweizerischen Forschungsprojekts.
Der Beitrag von Antonius Liedhegener vertritt die These, dass soziale Integration ohne die Berücksichtigung von Religion in der deutschen Gegenwartsgesellschaft nicht gelingen kann. Der Beitrag verweist auf die Grenzen älterer individualistischer Theorien zur sozialen Integration und greift auf ein kultursensitives Konzept von Integration zurück, wie es John W. Berry entworfen hat. Auf der Basis einer breiten, entsprechend des Stands der Forschung freilich heterogenen empirischen Basis wird die Rolle religiös-kultureller Aspekte für die Konstitutionsbedingungen und Dynamiken sozialer Integration im Gefolge der massiven Zuwanderung von Geflüchteten in den Jahren 2015 und 2016 für Deutschland analysiert. Es zeigt sich, dass Religion auf allen drei Ebenen des Sozialen Teil des Integrationsgeschehens ist, dass es allgemein um die Integrationsbereitschaft und –bemühungen besser bestellt ist, als dies in der öffentlich-medialen Wahrnehmung oftmals erscheint, und dass Religion trotz aller Ambivalenzen insgesamt mehr Hilfe als Konfliktursache ist.
Der universitäre Forschungsschwerpunkt "Religion und gesellschaftliche Integration in Europa“ (REGIE) wurde im November 2009 für zunächst fünf Jahre eingerichtet und für zwei Jahre bis Jahresende 2016 verlängert.
Zum Abschlussband: Religiöse Identitäten und gesellschaftliche Integration.
Kontakt
Prof. Dr. Antonius Liedhegener
Professor für Politik und Religion am Zentrum für Religion,
Wirtschaft und Politik (ZRWP)
antonius.liedhegener @ unilu.ch
Dr. Anastas Odermatt
Forschungsmitarbeiter am Zentrum für Religion,
Wirtschaft und Politik (ZRWP)
anastas.odermatt @ unilu.ch