Das Konzept der Familie erfindet sich neu
Im Seminar Family in Social Analysis von Dr. Nidhin Donald wurden Queer-Familymaking, soziale Ungerechtigkeit und die Bedeutung der Heirat in Indien zum Mittelpunkt spannender Diskussionen. Soziale Normen wurden hinterfragt und neue Perspektiven auf das Konzept Familie ermöglicht.
"Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel." Mit bedingungsloser Liebe und Geborgenheit war Goethes Rezept für eine glückliche Familie relativ simpel. Doch was macht das Idealbild der Familie heute aus? Inwiefern prägen soziokulturelle Hintergründe, juristische Definitionen und romantische Vorstellungen? Was ist Familie? Mehr als nur eine Kategorie oder ein soziales Konstrukt? Das Hauptseminar im Fachbereich Ethnologie bot anregenden Gesprächsstoff über historische Veränderungen sowie aktuelle Debatten.
Einblicke in andere Kulturen
Der Soziologe Nidhin Donald nahm die Studierenden im Frühjahrssemester 2024 mit auf eine Reise durch verschiedene globale Kontexte, um die Familie, und was wir darunter verstehen, zu erkunden. Ein besonderer Fokus galt dem Land Indien, wo Donald aufwuchs. Durch diesen Background konnte er spannende – teils persönliche – Einblicke in eine Kultur verschaffen, in welcher der Ehe eine wichtige Bedeutung zugeschrieben wird.
Spannende Fallbeispiele
Nicht nur Heirat in Indien, sondern auch Werte und Normen in Taiwan wurden diskutiert. So ist es in der Gesellschaft Taiwans wichtig, ein guter zijïrén zu sein. Ein zijïrén ist eine Person, die zur Aufrechterhaltung der Harmonie beiträgt, ein guter Mitmensch also. Oft geht dies Hand in Hand mit dem Verzicht auf eigene Rechte und Bedürfnisse – auch innerhalb der Familie.
Am Fallbeispiel einer taiwanesischen Familie wurde ersichtlich, inwiefern die Kultur im familiären Gefüge eine entscheidende Rolle spielt und über Recht und Unrecht entscheidet. Die Eltern entschieden sich dazu, ihren erstgeborenen Sohn finanziell zu unterstützen, während alle weiteren Kinder den Eltern einen Anteil ihres Lohnes abgeben mussten. Um dem Ideal des zijïrén zu entsprechen, tolerierten die jüngeren Geschwister dieses Ungleichgewicht lange Zeit. Als der Zweitgeborene schliesslich diese Ungerechtigkeit ansprach, stiess er auf Unverständnis und es kam zum Bruch.
Neue Formen der Familie
Neben rechtlichen Konflikten standen in dem Seminar auch rechtliche Errungenschaften im Zentrum, wie zum Beispiel die Förderung von Queer Family Making, also die Familienbildung nicht heterosexueller Paare. Künstliche Befruchtung und Adoption nehmen dabei eine zentrale Funktion ein. Während diese Möglichkeiten sowohl in Europa als auch den Vereinigten Staaten verbreitet sind, gelten die skandinavischen Länder als Spitzenreiterinnen. In diesen kam es zu einem regelrechten queeren Babyboom. Nicht nur bieten sie eine grosszügige finanzielle Unterstützung an, sondern sie positionieren sich allgemein sehr positiv gegenüber LGBTQ-Paaren.
Seit wenigen Jahren haben nichtheterosexuelle Paare auch in der Schweiz die Möglichkeit zur Adoption und künstlichen Befruchtung. Im Gegensatz zu vielen anderen europäischen Ländern handelt es sich jedoch um eine eher teure Angelegenheit.
Familie als soziales Konstrukt?
Eine einstimmige Antwort auf die Frage, ob Familie nur ein soziales Konstrukt sei, vermochte das Seminar nicht hervorbringen. Schnell wurde ersichtlich: Die Familie ist keineswegs ein selbstverständliches Konzept. Auch wird Familie nicht nur mit Heimatgefühl verbunden, sondern mit Privilegien, Ungerechtigkeit und Identitätsbildung.
Die verschiedenen Perspektiven, die das Seminar den Studierenden eröffneten, zeigten: Die Familie als Konzept ist nicht statisch, sondern verändert sich und entwickelt sich stetig weiter. Dies spiegelt sich im Aufkommen nicht heteronormativen Ehen (Ehen, die nicht dem binären Geschlechtersystem entsprechen), aber auch im Loslösen von typischen Rollenbildern und der Emanzipation.
Dieser Artikel wurde von Nora Knobel, Bachelor-Studentin in Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften, verfasst.