Das ‚System of Care’ der fetomaternalen Chirurgie bei Spina bifida. Zur Etablierung eines klinischen Standards und einer gesellschaftlichen Norm
Dissertationsprojekt Sandra Gratwohl
Mit pränatalen Therapien entsteht aktuell ein Feld biomedizinischer Innovationen, das neue Formen medizinischen Handelns erzeugt und die gesellschaftliche Wirklichkeit prägt. Ein Schweizer Zentrum im Feld der fetomaternalen Medizin bietet seit 2010 die vorgeburtliche Operation bei Spina bifida, einer Neuralrohrfehlbildung, an. Dieses Verfahren, das mit einer Öffnung der Bauchdecke und der Gebärmutter einhergeht, gilt seitens der Medizin als „novel standard of care“. Was bedeutet hier aber Standard? Wie wird aus einem klinischen Standard eine Leistung, die regulär von der Krankenversicherung übernommen wird? Und wie wird aus einer Behandlungsmöglichkeit eine gesellschaftliche Normalität?
Diese Fragen werden in dem vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Dissertationsprojekt diskutiert. Erkenntnisse jüngster Feldbesuche zeigen, dass diese neue Standardbehandlung ein komplexes, interdisziplinäres Zusammenspiel erfordert: ein „System of Care“, wie es einer der Co-Direktoren des Zentrums nennt. In diesem „System of Care“ wirken medizinische Akteure (von der Neonatologie, Gynäkologie und Anästhesie über die Kinderchirurgie bis hin zur Rehabilitation und Pflege), Schwangere und ihr familiäres Umfeld zusammen. Zentral hierfür ist die Bindung aller Akteure an dieses System durch „Compliance“, das heisst die Selbstverpflichtung zu regeltreuem Verhalten.
Werden Standards im Sinne von „Ecologies of Knowledge“ (Star 1995) verstanden, zeigt sich, dass sie in den sozialen Welten jeweils ungleich erfahren und ausgehandelt werden. Standards sind weder neutral noch unpolitisch oder gegeben. Vielmehr verkörpern sie Werte, führen zu Konsequenzen und erfordern Verpflichtungen. Standards werden in der Praxis fortwährend hergestellt, unterhalten und vermutlich auch immer wieder an gewonnene Einsichten angepasst. Mithilfe eines ethnografischen Ansatzes möchte ich vor Ort verstehen lernen, wie das „System of Care“ konkret funktioniert, warum dieses notwendig ist, welche Akteure und Positionen darin auszumachen sind, wie „Compliance“ erreicht wird und wie Schwangere ihre eigene Rolle im System erleben.
Die Standardisierung einer medizinischen Möglichkeit hat über das medizinische Gebiet hinaus Auswirkungen. So wird diskutiert, ob die pränatale Operation bei Spina bifida den Status einer durch Versicherungsleistungen gedeckten Routinebehandlung erhalten soll. Aus diesem Grund wird über das „System of Care“ hinausgehend verfolgt, wie die Operationstechnik in Politik, Recht und Gesellschaft verhandelt wird. Im Horizont der Studie liegt damit die Verhandlung einer medizinischen Möglichkeit in eine gesellschaftliche Normalität. Neue pränatale Normen bleiben für die Entscheidungsfindung von Schwangeren nicht ohne Konsequenzen. Die Studie möchte daher nicht zuletzt zeigen, in welcher Weise ihre Autonomie in diesem Prozess adressiert und beachtet wird.
Die Ergebnisse der ethnografisch angelegten Dissertation werden dazu beitragen, medizinische, rechtliche, institutionelle und gesellschaftliche Aspekte der Entwicklung aufzuschlüsseln, ihre Konsequenzen sichtbar zu machen und die öffentliche Diskussion zu vertiefen.