«Wissenschaft muss transparent sein»
Im Rahmen der «International Open Access Week» wurde Alrik Thiem der «Open Science Preis» der Universität Luzern verliehen. Im Interview gibt er Einblicke in sein Projekt und erklärt, weshalb Wissenschaft nicht spektakulär sein muss.
Alrik Thiem, schildern Sie uns kurz Ihr Projekt «CORA» (Combinational Regularity Analysis): Worum geht es?
Alrik Thiem: Kurz gesagt, geht es bei CORA um die Entwicklung einer Methode, mit welcher sich komplexe Ursache-Wirkung-Beziehungen aus einem Datensatz aufdecken lassen, und zwar solche Beziehungen, die ähnlich wie ein elektrischer Schaltkreis funktionieren. Maximal simpel formuliert: «Schalter an, Licht an; Gen-Defekt an, Krankheit an; wirtschaftspolitische Massnahme an, Wirtschaftswachstum an». Natürlich können aber die von CORA aufdeckbaren ‹Schaltkreise› viel komplexer sein, mit sehr vielen «Schaltern», sehr vielen verschiedenen «Verdrahtungen» zwischen den «Schaltern» und vielen «Lichtern» am Ende.
Warum ist freie Software («Open Source») wichtig für Transparenz und Offenheit der Wissenschaft? Haben Sie ein konkretes Beispiel?
Für qualitative Forschung, die vor allem in den Sozial- und Gesellschaftswissenschaften verbreitet ist, wird oft keine Software verwendet. Jedoch benutzt auch ein signifikanter Teil der Sozial- und Gesellschaftswissenschaften sowie der gesamte Rest wissenschaftlicher Disziplinen Software, mit welcher Daten analysiert und ausgewertet werden. Die Methoden zur Auswertung von Daten und die entsprechend in einer Software implementierten Algorithmen werden jedoch häufig nur von einer relativ kleinen Anzahl Personen wirklich verstanden. Wenn eine Software nicht Open Source ist, gibt es quasi keine Möglichkeit nachzuvollziehen, wie Forscherinnen und Forscher auf bestimmte Ergebnisse gekommen sind. Der Weg von den Daten und den Hypothesen zu den final präsentierten Resultaten bleibt eine komplette «Black Box». Ein gutes Beispiel ist die Zeitschrift «European Union Politics». Bevor ein Manuskript mit einer quantitativen Analyse veröffentlicht wird, werden alle Resultate auf Replizierbarkeit getestet. 2018 hatte man jedoch ein grosses Problem. Eine Analyse liess sich partout nicht replizieren. Es kam nach langem Suchen der Ursachen heraus, dass die Firma, welche die kommerzielle statistische Software vertreibt, einen Algorithmus zwischen zwei Versionen verändert hatte.
Welche Bedeutung hat Open Science in Ihrem Forschungsfeld?
Leider noch nicht die, die es haben sollte. Ich bin sehr interdisziplinär ausgerichtet, da «Methoden» zwar als ein eigenes Forschungsfeld angesehen werden können, jedoch erst in der Anwendung innerhalb verschiedener substanzieller Disziplinen überhaupt eine konkrete Bedeutung gewinnen. Und hier hakt es noch gewaltig. Das hat aber zwei Gründe, die man einzeln betrachten muss. Ich grenze es mal etwas von Open Science wieder hin zu Open Source ein: Einerseits muss Software Open Source sein, da sonst nicht einmal Expertinnen und Experten die Möglichkeit haben, zu verstehen, wie ein Algorithmus in dieser Software funktioniert, welche «Annahmen» er trifft, und ob er möglicherweise Ergebnisse in die ein oder andere Richtung «verzerrt». Andererseits müssen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler genau verstehen, was deren Algorithmen überhaupt tun. Das hat schlichtweg mit methodischer Kompetenz zu tun. Es braucht also neben Open Source auch entsprechend ausgebildete Personen, welche die Methoden und Algorithmen wirklich verstehen.
Was würden Sie anderen Forschenden in Bezug auf Open Science empfehlen?
Vor allem auf Forschenden am Anfang ihrer Karriere lastet ein immens hoher Druck zu publizieren. Es ist leider gleichfalls empirisch nachgewiesen, dass spektakuläre Ergebnisse eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit besitzen, publiziert und wahrgenommen zu werden. Spektakuläre Ergebnisse sind aber die Ausnahme, nicht die Regel. Eine Wissenschaftswelt, in der Open Science wirklich funktioniert, würde dies gnadenlos aufdecken. Junge Forschende müssen also abwägen zwischen ihrem Gewissen und ihrem eigenen Anspruch an gute Wissenschaft, sowie den momentan noch geltenden impliziten Anforderungen für eine wissenschaftliche Karriere. Da es leider oft keine regelnden Instanzen gibt oder diese manchmal leider versagen, kann das nur eine persönlich geprägte Entscheidung sein. Meine Empfehlung wäre jedoch eindeutig: Damit Wissenschaft als Ganzes überhaupt systematisch gut funktionieren kann, muss die Forschung, welche sie trägt, so transparent wie möglich sein. Die Wissenschaft als Ganzes steht vor allem seit der Replikationskrise in den 2010er-Jahren unter hohem Druck. Das Vertrauen in Wissenschaft insgesamt sinkt. Jede und jeder Forschende steht somit in der Verantwortung, dem entgegenzuwirken. Die Wissenschaftsgemeinschaft und die Öffentlichkeit müssen sich davon verabschieden, dass Wissenschaft spektakulär sein muss. Dann wird auch Open Science funktionieren.
Newsmeldung zur Verleihung des «Open Science Preises»
Früherer «cogito»-Beitrag zur Software «CORA»