Wie kann man intensiven Serienkonsum erklären?
Binge-Watching, also das intensive oder gar exzessive Schauen mehrerer Episoden einer TV-Serie am Stück, beschäftigt Forschende in den letzten Jahren zunehmend. Bei zwei aktuellen Studien mit Beteiligung von Dr. Alexander Ort stand die Frage im Fokus, welche Rolle Cliffhanger dabei spielen.
Durch Plattformen wie Netflix und Co. haben Serienkonsumentinnen und -konsumenten Zugriff auf ein schier endloses Angebot an Filmen und Serien. Vor diesem Hintergrund wird in den letzten Jahren auch immer wieder und kontrovers über das sogenannte Binge-Watching diskutiert, also das ‹Verschlingen› mehrerer Episoden oder sogar einer ganzen Staffel am Stück. Forschende versuchen zu verstehen, was Binge-Watching ausmacht und worin dessen Reiz liegt. Eine wichtige Rolle dabei spielt der Inhalt und die Gestaltung der Serien und Episoden, in denen oft auch Cliffhanger, also offene und oftmals dramatische Enden, zum Einsatz kommen.
Gemeinhin wird angenommen, dass solche Cliffhanger die Zuschauenden in einen positiven Erregungszustand versetzen, wodurch das Unterhaltungserleben erhöht wird. Je besser sich Menschen von einer Serie unterhalten fühlen, desto grösser sollte theoretisch auch die Absicht sein, an einer Serie ‹dranzubleiben›, also weiterzuschauen. Dadurch könnten Cliffhanger einen wichtigen Auslöser für Binge-Watching darstellen.
Mit oder ohne Cliffhanger
Um dies zu untersuchen, wurden in einem Laborexperiment unter der Beteiligung von Dr. Alexander Ort, Lehr- und Forschungsbeauftragter Gesundheitswissenschaften, 133 Teilnehmenden je drei bis vier Episoden einer Krimi-/Dramaserie («Orphan Black», «The Sinner», «How to Get Away With Murder» oder «Sense8») gezeigt. Während die eine Hälfte die Episoden mit Cliffhanger sah, wurden diese bei der anderen Hälfte entfernt. Die Forschenden massen den Erregungszustand mit Fragebögen und anhand psychophysiologischer Reaktionen (Hautleitfähigkeit und Cortisolspiegel). Zwar deuten die im Journal «Psychology of Popular Media» publizierten Ergebnisse darauf hin, dass Cliffhanger zu einer höheren Erregung führen. Allerdings fanden sich in der Studie keine Hinweise darauf, dass Cliffhanger das Unterhaltungserleben oder die Absicht, die Serie weiterzuschauen, fördern.
Eine zweite, im «Journal of Media Psychology» veröffentlichte Studie zu Binge-Watching bestätigt diese Befunde in einem weiteren Kontext. Hier wurde das Seriennutzungsverhalten der Teilnehmenden zu Hause mit mit wenigen Restriktionen frei wählbaren Serien, also in einem natürlichen Umfeld, untersucht. Die Ergebnisse zeigen, dass sich Binge-Watching ganz allgemein nicht wesentlich von konventionellem und wenig intensivem Serienkonsum unterscheidet – mehrere Folgen am Stück zu schauen steigert also ganz generell nicht zwingend das Unterhaltungserlebnis, egal, ob nun Cliffhanger vorhanden sind oder nicht. Dass Menschen Binge-Watching betreiben, ist demnach weder auf das Vorhandensein von Cliffhangern noch auf ein gesteigertes Unterhaltungserleben durch den intensiven Serienkonsum zurückzuführen.
Bisherige Annahmen infrage gestellt
Alexander Ort sagt: «Die Ergebnisse dieser beiden Studien deuten also darauf hin, dass Binge-Watching mit oder ohne Cliffhanger – anders als bislang angenommen – nicht als unterhaltsamer erlebt wird als konventionelles Serienschauen.» Nun stelle sich die Frage, welche Faktoren oder Elemente es denn dann sind, die zu Binge-Watching animieren bzw. dieses verstärken. «Neben bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen könnte dabei auch der eigentliche Inhalt eine wichtige Rolle spielen», so Ort. «Es ist vorstellbar, dass bei Dramaserien andere Wirkmechanismen greifen als etwa bei comedylastigen Inhalten.» Um diese Fragen zu klären, bedürfe es weiterer Studien.
Forschungslabor vorgesehen
Alexander Ort hat diese und andere Studien zu Binge-Watching in Forschungslabors an einer anderen Universität in der Schweiz realisiert. Ähnliche, für verschiedene humanwissenschaftliche Disziplinen relevante experimentelle Studien könnten künftig auch an der Universität Luzern durchgeführt werden. So ist die Inbetriebnahme eines verhaltenswissenschaftlichen Labors 2023 im Zusammenhang mit der vorgesehenen Einrichtung einer Fakultät für Verhaltenswissenschaften und Psychologie vorgesehen. Über die dazu notwendige Revision des Universitätsgesetzes befindet der Kantonsrat in diesem Herbst; kürzlich hat die vorberatende Kommission die Zustimmung dazu beantragt. Sollte die Fakultät eingerichtet und damit auch das Labor realisiert werden können, liegt dafür bereits eine Zusage von 100'000 Franken von einer Luzerner Privatperson vor. Die Donationen unterliegt wie üblich den Richtlinien für die Annahme von privaten Drittmitteln; es ist also gewährleistet, dass die Autonomie der Universität und die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und Lehre gewahrt bleiben würde.
Mittels eines solchen Labors könnten die Studierenden mit experimentellem Arbeiten vertraut gemacht werden; auch ist es ein Vorteil bei der Bewerbung um Nationalfonds-Gelder, wenn man experimentell arbeiten kann. Rektor Bruno Staffelbach: «Das Ja des Kantonsrats vorausgesetzt, würden wir, was das Labor anbelangt, mit einer Anlage für Eye-Tracking starten. Damit ist messbar, was Probandinnen und Probanden mit ihren Augen verfolgen.» So könne man zum Beispiel Leseschwächen bei Kindern entdecken, und auch in der klinischen Psychologie bei der Behandlung von Phobien sei dies von Interesse. Ein Ausbau des Labors sei möglich, etwa im Bereich virtuelle Realität. Zudem: «Die Infrastruktur soll auch von anderen Akteuren auf dem Bildungsplatz Luzern genutzt werden können, etwa von der Hochschule Luzern oder der Pädagogischen Hochschule.»