Was ein Schweizer Jäger im Regenwald über Männlichkeit und Macht aussagt
Der Historiker Tomás Bartoletti wirft ein Schlaglicht auf die wenig bekannten Forschungstätigkeiten des Johann Jakob von Tschudi im 19. Jahrhundert und regte mit seinem Vortrag «A Swiss Hunter in the Peruvian Rainforest: Natural History and Masculinities in the Mid-Nineteenth Century» zum Denken an.
Getrieben von Forschungsdrang reiste der Glarus-Gebürtige Naturkundler Johann Jakob von Tschudi im 19. Jahrhundert in die Regenwälder Südamerikas. Er war gleichermassen Naturforscher wie auch Reisender, Diplomat und ja, auch Jäger, wie das Publikum des Kulturwissenschaftlichen Kolloquiums am 19. November an der Universität Luzern erfuhr.
Symbol der Ungleichheit
Auf dem Bild stechen zwei sich gegenüberstehende Figuren ins Auge: eine indigene Peruanische Frau mit nacktem Oberkörper und ein westlich gekleideter Mann, hoch sitzend auf dem Rücken eines Pferdes samt Gewehr in der Hand. Es handelt sich um Johann Jakob von Tschudi (1818 - 1889), die Frau indes bleibt namenlos.
Dieses Bild ist vom hohen Interesse für Kolonialhistoriker Tomás Bartoletti, der über Tschudi forscht und eine Biographie verfasst. Es stelle nämlich zentrale Dimensionen seiner Forschung dar: Die Machtasymmetrie zwischen verschiedenen Menschengruppen im Südamerika des 19. Jahrhunderts und den westlichen Naturforscher als Symbol hegemonialer Männlichkeit.
Tschudis Machenschaften in Lateinamerika
«Als Student dachte ich, Biographien seien ein veraltetes Genre. Jetzt jedoch sehe ich ein, dass es eine grossartige Gelegenheit bietet, diesen ‘grossen Mann der Wissenschaft’ kritisch zu hinterfragen und etablierte Deutungen herauszufordern.» Bartoletti, der zwischen 2019 und 2021 an der ETH Zürich tätig war, sammelte an die Tausend handgeschriebene Briefe, Karten, Studien usw., die Tschudi hinterlassen hatte.
Für seine erste Reise in den 1830er-Jahren verschlug es Tschudi nach Peru. Im Auftrag des Naturhistorischen Museums in Neuchâtel jagte und sammelte er dort exotische Tiere. So erlegte Tschudi über 600 Arten verschiedener Tiere und brachte sie nach Europa. Zudem war er Experte im Handel von Guano und Alpakawolle. Seine zweite Reise nach Lateinamerika führte ihn zwanzig bis dreissig Jahre später nach Brasilien. Dort berichtete er über die dortigen Erzkonzerne und die Schweizer Immigrantinnen und Immigranten, die unter ungerechten Arbeitsbedingungen Kaffee angebaut haben.
Der «Schweizer Humbolt»
Das alles ist viele Jahre her. Wozu noch Tschudi-Forschung? Im Vergleich zu anderen Naturforschern aus dem deutschsprachigen Raum, wie zum Beispiel Alexander von Humbolt, werde Tschudis Erbe nicht ganz so heiss diskutiert. Bartoletti will dies mit seiner Forschung ändern, denn Tschudi sei eine der Hauptfiguren in der Beziehung zwischen der Schweiz und Lateinamerika gewesen. Dort sei die Tschudi-Forschung schon etabliert, allerdings unkritisch, findet Bartoletti. Sie werde den Dimensionen des Kolonialismus und von Gender nicht gerecht. Auch die Frage, welche Rolle Rassen-Asymmetrien dort gespielt haben, solle in künftiger Tschudi-Forschung beantwortet werden.
Jagd als Ausdruck von Männlichkeit?
«Zeig mir dein Gewehr, und ich sag dir, was für ein Mann du bist». Für Tschudi machte das Gewehr erst den Mann aus. Er hätte dieses Waffennarrativ benutzt, um die post-kolonialen Verhältnisse in Brasilien zu legitimieren. Für Bartolettis Forschung sei zentral, das Phänomen der Männlichkeit nicht in einem Vakuum zu behandeln: Männlichkeit äussere sich auf der Ebene der Wissenschaft, des Kolonialismus und der Jagd. Bartoletti führte deshalb den Begriff der «Entangled Masculinity» ein, oder auf Deutsch: verstrickte Männlichkeit. Dieser Begriff soll Männlichkeit einerseits aus einer globalen Perspektive erklären und andererseits den Fokus auf Interdisziplinarität setzen.
Ausblick auf die Tschudi-Ausstellung
Das gesamte Werk Tschudis kann ab 2024 in Muséum d'histoire naturelle Neuchâtel betrachtet werden. Zu den Ausstellungsstücken zählen präparierte Tiere, menschliche Überreste, und archäologische Fundstücke, die Tschudi während seines Südamerika-Aufenthalts gesammelt hat, sowie von seiner Hand gefertigte Illustrationen und Briefe. Gefördert wird das Projekt von der Agora-Scheme des SNSF (Swiss Natural Science Foundation).
Text: Toni Rasic, Master-Student Philosophie
Tomás Bartoletti
Tomás Bartoletti ist Wissenschafts- und Kolonialhistoriker sowie aktuell Max Weber Fellow am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Er forscht zu indigener Epistemologie, Sklaverei und Landwirtschaft im 19. Jahrhundert.