Schweizer Holocaust-Opfer: Dissertation gefördert
Dass es im Zuge der Nazi-«Euthanasie» auch Opfer mit Bezug zur Schweiz gibt, ist kaum bekannt und erforscht. Dies möchte Sophie Küsterling mit ihrer Doktorarbeit ändern und hat dafür von der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät (KSF) eine Anschubfinanzierung erhalten.
Die Nationalsozialisten ermordeten im Rahmen des «Euthanasie»-Programms rund 300'000 psychisch Kranke und Menschen mit Behinderung. In der zentral gelenkten Phase, der sogenannten «Aktion T4», wurden von Januar 1940 bis August 1941 (bevor das Morden dezentral weiterging) über 70'000 Menschen in sechs Tötungsanstalten vergast. Darunter befanden sich auch – was bis dato weder gesellschaftlich noch wissenschaftlich in wirklichem Masse aufgearbeitet ist – Personen aus der Schweiz. Hier setzt das Dissertationsprojekt von Sophie Küsterling mit dem Arbeitstitel «Vergast und Vergessen. ‹T4›-Opfer aus der Schweiz» an. Für die Startphase hat sie eine einjährige Anschubfinanzierung von der «Graduate School of Humanities and Social Sciences» (GSL), dem strukturierten Doktoratsprogramm der KSF, erhalten.
Nachzeichnen von 70 Schicksalen
Küsterling führt aus: «Meine Dissertation wird sich mit deutschen und österreichischen Staatsangehörigen befassen, welche in den Kantonen Basel-Stadt, Baselland, Bern und Jura geboren wurden und aufwuchsen oder zuletzt wohnten, aber aus verschiedenen Gründen nach Deutschland oder Österreich ausgewiesen wurden, wo sie später im Rahmen der ‹Aktion T4› ermordet wurden.» Der Fokus werde auf den psychiatrischen, sozial- und bevölkerungspolitischen Strukturen in der Schweiz liegen, «welche diese Menschen überhaupt zu NS-Opfern machen konnten». Eine erste Sichtung von Archivmaterial habe ergeben, dass ein grosser Teil nach einem Psychiatrieaufenthalt aus Kostengründen aus der Schweiz ausgewiesen wurde. Die Untersuchungseinheit besteht vorläufig aus 70 «T4»-Opfern.
Die Dissertation, so Sophie Küsterling, «nimmt sich nicht nur einer Forschungslücke an, sondern greift auch den Paradigmenwechsel in der Schweizer Geschichtswissenschaft auf, der sich vermehrt für marginalisierte Personen und Opfer interessiert». Zudem leiste die geplante Studie einen Beitrag zur Erforschung der NS-Krankenmorde unter Einbezug von transnationalen historischen Abläufen – in diesem Fall in einem neutralen und unbesetzten Staat. Da die Nationalsozialisten die Mehrheit der Akten zu den «T4»-Opfern vernichteten hätten, «kann manchen Personen dank Akten aus Schweizer Staatsarchiven zudem ein gewisses Mass an Identität zurückgegeben werden, welche ihnen durch die systematische Massenvernichtung genommen wurde».
Seminararbeit zur Thematik
Sophie Küsterling hat an der Universität Luzern den Bachelor und Master in Politikwissenschaft absolviert und verfasst ihre Dissertation unter der Betreuung von Prof. Dr. Patrick Kury, Titularprofessor für Geschichte mit Schwerpunkt Neueste und Schweizer Geschichte. Sie hat bei Kury eine Masterseminararbeit zum «T4»-Opfer Ernst Bühler, der in Basel geboren wurde und aufgewachsen war, verfasst. Nach mehreren Psychiatrieaufenthalten wurde dieser 1921 nach Deutschland ausgewiesen – und am 10. Juni 1941 in der Tötungsanstalt Grafeneck vergast. «Nach Abgabe der Arbeit konnte ich das Thema nicht ruhen lassen, und die jüngsten Aufarbeitungsarbeiten zu NS-Opfern aus der Schweiz haben mich darin bestärkt, dazu zu promovieren.»
Die Anschubfinanzierung, die mit rund 42'000 Franken dotiert ist (für ein 40–45%-Pensum) soll als Unterstützung bei der Einwerbung von Drittmitteln für ein mehrjähriges Doktoratsprojekt dienen. Bedingung der Vergabe ist, dass die Nachwuchsforschenden einen Förderantrag zuhanden einer Drittmittelinstitution, zum Beispiel dem Schweizerischen Nationalfonds, ausarbeiten und einreichen. Dadurch wird bei erfolgreicher Begutachtung die weitere Finanzierung der Promotionsprojekte nach Ablauf der fakultären Förderung sichergestellt. Aktuell ist eine weitere Ausschreibung der GSL für Projekte mit Start am 1. Oktober am Laufen. Mehr Informationen