Mit Psychologie Fehlurteile verhindern

Im Rahmen der «LUKB-Vorlesungsreihe» brachte Prof. Dr. Helen Wyler das Publikum mit Experimenten über die menschliche Wahrnehmung zum Staunen – und mit anschaulichen Beispielen über Fehlurteile zum Nachdenken.

Referentin Helen Wyler (Bild: Roberto Conciatori)

Eine einzige falsche Annahme kann im Justizsystem viele weitere nach sich ziehen – und fatale Folgen haben, wie Prof. Dr. Helen Wyler in ihrem Vortrag «Fehlurteile und Urteilsfehler» am 19. November deutlich machte. Die Luzerner Assistenzprofessorin für Rechtspsychologie zeigte, wie kognitive Verzerrungen, fehlerhafte Ermittlungsstrategien und psychologische Mechanismen womöglich unschuldige Menschen hinter Gitter bringen – und was dagegen unternommen werden kann.

Der Fall Rupp – ein tragischer Justizirrtum

Helen Wyler stellte gleich zu Beginn ihres Vortrags klar, dass Justizirrtümer beileibe nicht nur in den USA regelmässig vorkommen. Als Beispiel führte sie den Fall Rudi Rupp an, der exemplarisch für die Dynamik von Justizirrtümern steht. 2001 verschwand der damals 52-jährige Rupp spurlos aus seinem Heimatdorf in Oberbayern. Ohne klare Hinweise oder Beweise gerieten seine Ehefrau, seine zwei Töchter und der Freund einer der Töchter ins Visier der Ermittler. Mit den Angehörigen wurden diverse nicht dokumentierte informelle Gespräche geführt, worauf diese Geständnisse ablegten, die sich später als falsch herausstellten. Sie wurden beschuldigt, Rupp erschlagen, zerstückelt und die Leichenteile den Hunden zum Frass vorgeworfen zu haben – es erfolgte eine Verurteilung. Doch 2009 tauchte Rupps Fahrzeug mitsamt seiner Leiche in einem Fluss auf. Die grausame Theorie der Ermittelnden erwies sich somit als haltlos.

Wyler verdeutlichte an diesem Fall die verheerenden Konsequenzen fehlerhafter Vernehmungstaktiken: «Es ging den Verdächtigen in dem Moment nicht darum, die Wahrheit zu sagen, sondern darum, dem unmittelbaren Druck der Situation zu entkommen.» Personen mit kognitiven Einschränkungen seinen zudem einem höheren Risiko ausgesetzt, falsche Geständnisse abzulegen. Bei allen vier Beschuldigten wurde ein IQ zwischen 50 bis 70 festgestellt, was einer leichten Intelligenzminderung entspricht. Jugendliche sowie Menschen mit intellektuellen Einschränkungen seien einerseits leichter beeinflussbar, andererseits könnten sie die langfristigen Folgen ihrer Aussagen vergleichsweise schlechter abschätzen.

Die Macht des Kontextes: forensische Fehler

Selbst forensische Beweise, die objektiv erscheinen, sind vor kognitiven Verzerrungen nicht gefeit. Dies veranschaulichte Wyler anhand einer Studie, bei der Expertinnen und Experten gebeten wurden, Knochenfunde aus zwei vermeintlich unterschiedlichen Kontexten zu bewerten: Einmal wurde ihnen gesagt, es handle sich um Funde aus einem archäologischen Grabungsort, andere Forensikerinnen und Forensiker liess man im Glauben, das Material stamme aus einem Massengrab. Obwohl es sich um identische Funde handelte, brachten die Fachleute letztere häufiger mit Gewalteinwirkung in Verbindung. «Wenn die Hypothese der Ermittler lautet, dass ein Gewaltverbrechen vorliegt, werden sie Beweise oft unbewusst in diesem Licht betrachten», erläuterte Wyler.

Dies führe nicht nur zu Bestätigungsfehlern, sondern könne die gesamte Kette der Strafverfolgung beeinflussen – von der Polizei über die Staatsanwaltschaft bis hin zu Richterinnen. «Wenn einmal der Verdacht einer Schuld entstanden ist, wird jede weitere Information häufig im Kontext dieser Annahme bewertet», so Wyler. Die Folgen sind fatal: Verdächtige würden konfrontativer befragt, Zeugen irreführend beeinflusst, und selbst forensische Analysen könnten von der anfänglichen Hypothese verzerrt werden. Helen Wyler erläuterte, dass solche Verzerrungen keine Einzelfälle seien, sondern ein systemisches Problem darstellen.

Kognitive Verzerrungen und falsche Erinnerungen

Mit kleinen Experimenten liess Wyler das Publikum anhand kurzer Videos Beobachtungen anstellen und selbst erfahren, dass unser Gehirn nicht darauf ausgelegt ist, Informationen neutral und objektiv zu verarbeiten. So etwa anhand eines Clips, in dem ein Kartentrick gezeigt wurde: Scheinbar war dabei kaum jemandem aus dem Publikum aufgefallen, dass während der Vorführung Kleidungsstücke des Magiers wechselten und sogar dessen Assistent durch eine andere Person ersetzt wurde. «Wir alle unterliegen kognitiven Verzerrungen, also systematischen Denkfehlern, die unsere Wahrnehmung und Entscheidungsfindung beeinflussen», erklärte die Assistenzprofessorin.

Abschliessend zeigte Wyler, wie psychologische Erkenntnisse helfen können, solche Fehler zu minimieren. Besonders wichtig sei die systematische Prüfung von Alternativhypothesen sowie der bewusste Einsatz von langsamem, reflektiertem Denken. «Ein solches benötigt Ressourcen – Zeit, Geld und Schulungen. Doch es ist unverzichtbar, um Fehlurteile zu vermeiden», betonte sie. Wyler hob zudem die Bedeutung einer Fehlerkultur hervor: «Justizirrtümer dürfen nicht als individuelles Versagen stigmatisiert werden, sondern müssen als Lernchance verstanden werden.»

Implementierung psychologischer Erkenntnisse

Gastgeber der fünften Ausgabe der «LUKB-Vorlesungsreihe» war zum ersten Mal Rektor Martin Hartmann, der sein Amt Anfang August diesen Jahres angetreten hat. Neben der Begrüssung fiel ihm auch die Aufgabe zu, die an den Vortrag anschliessende Gesprächsrunde mit Helen Wyler zu leiten. Diese wurde ergänzt durch Prof. Dr. iur. Michele Luminati, Professor für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie sowie Direktor des Obwaldner Instituts für Justizforschung an der Universität Luzern, sowie mit Daniel Salzmann, CEO der das öffentliche Vortragsformat unterstützenden Luzerner Kantonalbank (LUKB).

In der Diskussion kamen weitere interessante Themen zur Sprache: So erzählte Daniel Salzmann zum Beispiel, wie die LUKB Wissen aus der Psychologie nutzt, um Mitarbeitende regelmässig weiterzubilden. Als Faustregel beschrieb er den Grundsatz, am Freitagnachmittag keine grossen Kreditgeschäfte abzuschliessen, weil bekannt sei, dass zu diesem Zeitpunkt der Wunsch, bald ins Wochenende zu starten, die Entscheidung beeinflussen kann.

Michele Luminati verwies auf Studien, die belegen, dass am Gericht nach dem Mittagessen milder geurteilt wird als direkt davor – in sonst vergleichbaren Fällen. So kam die Gesprächsrunde, wie auch schon Helen Wyler, zum Schluss, dass wir alle zuweilen an kognitiven Verzerrungen leiden; und dass Reflektion die klügere Strategie ist als die Augen davor zu verschliessen.
 

Impressionen

Fotos: Roberto Conciatori