EU-Botschafter ordnet Folgen des Ukraine-Kriegs ein

Russlands Angriff auf die Ukraine hat die Europäische Union im vergangenen Jahr stark verändert – und damit auch die Weichen für die Beziehung der Schweiz zur EU neu gestellt. Im Rahmen der «Presidential Lectures» präsentierte EU-Botschafter Petros Mavromichalis eine klare Auslegeordnung aus Sicht der EU.

Luzern sei eine Brückenstadt, postulierte Rektor Bruno Staffelbach in seinem Willkommensgruss zur inzwischen dritten «Presidential Lecture» am 26. Januar. Und Brücken zu schlagen sei auch eine Funktion der Veranstaltungsreihe; sie werden geschlagen zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, aber auch zwischen der Welt, Europa und der Schweiz. Zu Gast an der Universität Luzern war Petros Mavromichalis. Der Botschafter der Europäischen Union in der Schweiz und für das Fürstentum Liechtenstein hat in seinem Referat klare Worte gefunden dafür, wie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine im vergangenen Jahr die EU geprägt hat. Die ohnehin hochrelevante Thematik hat in den vergangenen Tagen weiter an Dringlichkeit gewonnen, nachdem Deutschland und die USA entschieden haben, der Ukraine Panzer zu liefern.

Der Botschafter gliederte seine Ausführungen in drei Teile. Zunächst nahm er eine politische Einordnung des russischen Angriffskriegs vor, präsentierte dann die Reaktion Europas auf die Geschehnisse und ordnete ein, was diese für die EU bedeuten. Schliesslich zeigte er auf, welche Auswirkungen diese Entwicklungen auf die Zusammenarbeit der EU mit der Schweiz haben.

Eine Ära geht zu Ende

Petros Mavromichalis begann sein Referat mit dem Eingeständnis, auch er sei davon ausgegangen, dass ein solcher Krieg im Europa des 21. Jahrhunderts nicht möglich sei: Ein Krieg, in dem zivile Ziele angegriffen werden, der Millionen von Menschen in die Flucht treibt und bereits Tausende von Todesopfern gefordert hat. Mit dem Sturz der Berliner Mauer habe 1989 in Europa eine Ära begonnen, die von Frieden und Prosperität geprägt gewesen sei.

Doch die Zeitenwende, die wir nun erleben, habe sich durchaus angekündigt. Russland hat 2014 den Donbass-Krieg angezettelt und bereits 2008 Georgien angegriffen; spätestens da hätte klar sein müssen, dass Putin nicht davor zurückschreckt, seine Ziele mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Nun sei aber eine Schwelle überschritten mit dem Angriff auf die Ukraine, deren Staatlichkeit und Unabhängigkeit zu zerstören das Ziel Russlands sei. Mavromichalis betonte, der Angriff sei mehr als eine Invasion der Ukraine und zitierte den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj: es handle sich um den Beginn eines Krieges gegen Europa, gegen Menschenrechte und gegen die Einheit Europas. Mavromichalis akzentuierte, dass wenn der Diktator Putin nicht gestoppt werde, womöglich auch Moldawien, Polen oder die baltischen Staaten bald mit Aggressionen rechnen müssten.

Europa ist aufgewacht

Die Reaktion der EU auf die Invasion der Ukraine, auf die Mavromichalis im zweiten Teil seines Referats den Fokus legte, sei eindrücklich gewesen. Innert Stunden habe die EU reagiert. Bisher sind neun Sanktionspakete mit Massnahmen gegen die russische Industrie beschlossen worden. Die wirtschaftliche Hilfe für die Ukraine auf der anderen Seite sei enorm, die EU habe insgesamt 49 Milliarden Euro gesprochen. Schliesslich betonte der Botschafter auch die grosse Solidarität mit Geflüchteten in Europa. Niemand habe der Ukraine mehr geholfen als die EU. «Wir waren in der ersten Linie und da werden wir auch bleiben», bekräftigte Mavromichalis den eingeschlagenen Kurs. Man habe inzwischen begriffen, dass die Europäische Union mehr Verantwortung in der Sicherheitspolitik übernehmen muss. Das sei der EU bisher eher fremd gewesen, sei sie doch ein Friedensprojekt. «Wohlstand schaffen, persönliche Freiheiten und Demokratie fördern, das sind die Ziele der EU. Diese Werte werden bleiben, sie liegen in unserer DNA. Wir haben aber nicht nur Werte, wir müssen auch für sie einstehen», sagte Mavromichalis.

EU neu auch Energieunion

Für die EU sei die gegenwärtige Krise ein Katalysator, ein Beschleuniger von Entwicklungen, postulierte der Botschafter. Er zeigte auf, dass es zu einer Vertiefung der europäischen Integration gekommen ist, zum Beispiel sei die EU zur Energieunion geworden: 27 Mitgliedstaaten haben gemeinsam Gasspeicher auf fast 100 Prozent aufgefüllt und sich ein gemeinsames Sparziel von 15 Prozent gesetzt, dem sich auch die Schweiz angeschlossen hat. «Gemeinsam einkaufen, sparen, speichern und teilen – das ist jetzt die Devise», brachte Mavromichalis die Massnahmen auf den Punkt.

Schweiz in EU-Wertegemeinschaft

Im dritten und letzten Teil ordnete der Botschafter ein, wie die Zusammenarbeit der EU und der Schweiz in diesem neuen Kontext ausgestaltet ist und wie sie sich weiter entwickeln sollte. Die EU und die Schweiz seien befreundete und gleichgesinnte Entitäten, und wenn er von der europäischen Wertegemeinschaft spreche, meine er auch die Schweiz, stellte der Botschafter klar. Diese sehe man auch daran, dass Ignazio Cassis, Vorsteher des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten EDA und im vergangenen Jahr zudem Bundespräsident, an der Gründungskonferenz der Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG) in Prag teilnahm. «Die EU und die Schweiz stehen Schulter an Schulter bei der Unterstützung der angegriffenen Ukraine», so Mavromichalis. Man sei sich einig darüber, dass die politische Verurteilung des völkerrechtswidrigen Aggressionskriegs nötig ist. Die Schweiz habe fast alle Sanktionen der EU übernommen, geflüchtete Personen aufgenommen und leiste wie die EU sowohl wirtschaftliche wie auch humanitäre Hilfe, bemerkte der Botschafter weiter.

Enge Auslegung der Neutralität

Es gäbe aber auch Differenzen. Diese betreffen zum Beispiel Ansichten darüber, ob in der Schweiz produzierte Waffenteile an die Ukraine weitergegeben werden dürfen. Persönlich scheine ihm die sehr enge Auslegung der Neutralität schädlich, urteilte der Botschafter; für die Schweizer Rüstungsindustrie dürfte die Haltung der offiziellen Schweiz Probleme bringen, die Idee der autonomen Verteidigung sei zudem nur sehr schwierig zu realisieren. Wert legte der Botschafter zum Schluss auf die Feststellung, dass das Zusammenrücken der EU und der Schweiz mit Blick auf die Unterstützung der Ukraine ein aussenpolitisches Thema sei und keinerlei Einfluss habe auf die bilateralen Verträge, die aus Sicht der EU die Innenpolitik betreffen.

Im Anschluss an das Referat moderierte SRF-Journalistin Katja Stauber eine Diskussionsrunde mit dem Botschafter, an der sich auch Georg Häsler, Bundeshaus-Redaktor der NZZ für Sicherheitspolitik, sowie Rektor Bruno Staffelbach beteiligten – der zwischendurch auch auf sein Wissen als Brigadier zurückgreifen konnte. In dem Gespräch konnten nicht zuletzt Fragen aufgegriffen werden, die sich in den letzten Tagen durch die Zusage von Panzerlieferungen neu gestellt haben. Das immense Interesse der Anwesenden an den Perspektiven der EU spiegelte sich in zahlreichen spannenden Fragen aus dem Publikum.

Impressionen

Der Referent

Petros Mavromichalis ist seit September 2020 Botschafter der Europäischen Union für die Schweiz und das Fürstentum Liechtenstein. Davor leitete er die Abteilung «Open Source Intelligence» des EEAS Situation Centre der Europäischen Union. Mavromichalis blickt auf eine über 30-jährige Karriere in EU-Institutionen zurück, er besetzte verschiedene verantwortungsvolle Positionen in EU-Kommissionen zu Handel, Wachstum und Aussenbeziehungen und seit 2012 im Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD). Als EU-Botschafter ist er Mitglied des Lenkungsausschusses des Europa Forums. Die politisch neutrale Dialogplattform setzt sich für eine zukunftsfähige Beziehung zwischen der Schweiz und Europa ein.

Geboren ist Petros Mavromichalis 1964 in Athen, er besitzt die griechische und die belgische Staatsbürgerschaft. An der Université de Strasbourg und der London School of Economics hat er Masterabschlüsse in Rechtswissenschaft und in Europarecht erworben.