Eine Reise zu mehr Geschlechtergerechtigkeit
Prof. Dr. Azza Karam hielt die dritte «Hans Küng - Weltethos Lecture». Die Expertin für interreligiösen Dialog sprach über den Zusammenhang von Geschlechtergerechtigkeit, Gemeinwohl und Frieden.
Das vor 35 Jahren vom Theologen Hans Küng (1928-2021) angestossene «Projekt Weltethos»* will erinnert, vor allem aber auch weitergetragen werden, wie Odilo Noti, Präsident der Stiftung Weltethos Schweiz , bei der Begrüssung zur bereits dritten Veranstaltung in diesem Rahmen erklärte. Zum Thema des Abends hielt Nicola Ottiger, Leiterin des Ökumenischen Instituts Luzern, fest, dass die Frage der Geschlechtergerechtigkeit viele Menschen umtreibe, aber in Gesellschaft, Politik und gerade auch in der Religion oft nicht genügend ernst genommen werde.
Globales Gemeinwohl als Ziel
Für die Referentin Azza Karam – sie stellte sich als «ägyptische, arabische, nordafrikanische, muslimische Frau neben vielen anderen Identitäten» vor – war es jedoch eine «Ehre und Verantwortung», dieses Thema aufzunehmen. Sie lud gedanklich zu einer Reise zu mehr Geschlechtergerechtigkeit ein und stellte klar, dass es dabei um weit mehr geht, als darum, auch die Rechte von LGBTI+-Menschen zu respektieren. Der in der Sprache des Vortrags verwendete englische Begriff «Gender Justice» zeigt dies sprachlich deutlicher als die deutsche Übersetzung. Für Karam bedeutet er soziale Gerechtigkeit: «Gender justice is - or should be - enabling a 'whole of social justice' approach».
Azza Karam begann damit ihre Reise an einem grundlegenden Ausgangspunkt: bei der Herausforderung, ein globales Gemeinwohl auf dieser Erde zu erwirken. Die Gleichstellung der Geschlechter müsse dann «im Mittelpunkt einer neu belebten multilateralen Architektur» stehen, welche die Beziehungen der Menschen untereinander sowie mit der ganzen Schöpfung ins Zentrum stelle.
Das Potential der Religionen
Hierbei sei, so die Referentin, die Rolle der Religionen und (inter-)religiösen Organisationen zu berücksichtigen und verwies auf den US-amerikanischen Wissenschaftler Philip Jenkins, der die Religion als «die wichtigste belebende und zerstörerische Kraft in menschlichen Angelegenheiten» bezeichnet. Im globalen Geschehen gelte Religion und religiöse Rhetorik deshalb auch als Treiber von internationalen Konflikten, wie aktuelle Auseinandersetzungen deutlich zeigen würden.
Allerdings seien Religionen in der Regel nicht die einzige oder gar die Hauptursache von Konflikten, erklärte Azza Karam. Zudem könnten religiöse Führer und Institutionen «auf der Seite der Guten spielen» und zwischen gegnerischen Seiten vermitteln oder friedensstiftende Bildung anbieten, wie es auch Hans Küng immer wieder betont hat. Doch dann folgte ihr grosses «Aber».
Die Grenzen der Religionsvertreter
Denn in den zahlreichen sich für Frieden und Gerechtigkeit einsetzenden interreligiösen Organisationen werde wohl viel und ausdauernd diskutiert. Doch viel zu oft scheitere der Dialog daran, dass grundlegende Normen wie die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, insbesondere auch die Geschlechtergerechtigkeit, von einzelnen Religionsvertretern, mit Verweis auf die eigene Lehre, abgelehnt würden. Darin aber sieht Azza Karam eine «Verletzung eines globalen Ethos». Denn, so die Referentin weiter, «wo und wenn der interreligiöse Dialog nicht die Geschlechtergerechtigkeit stärkt und die Menschenrechte achtet (…), können wir keine Form von Frieden verwirklichen».
Leider bleibe gerade das Thema Geschlechtergerechtigkeit in interreligiösen Organisationen oft ein Lippenbekenntnis. Gefragt wären hier Glaubensführer, die in ihrer Religionsgemeinschaft die Rechte aller Mitglieder ungeachtet des Geschlechts anerkennen. Zwar gebe es wenige Religionsvertreter, die sich gegen Menschenrechte aussprechen, aber noch weniger, die sich offen für Geschlechtergerechtigkeit einsetzen würden.
Geschlechtergerechtigkeit als «All My Relations»
Auf ihrer Gedankenreise zur Geschlechtergerechtigkeit kam Azza Karam auch bei indigenen Glaubensrichtungen und Traditionen vorbei und verwies auf die dort im Zentrum stehende Lebensweise in Verbundenheit mit der Schöpfung. Dass alles Leben auf der Erde einer grossen «Verwandtschaft» («All My Relations») gleich miteinander verbunden sei, eröffne Möglichkeiten auch für die Frage der Geschlechtergerechtigkeit. Denn in einem «Gleichgewicht aller Lebensformen», so die Referentin, gäbe es in Religion und Glauben auch keine Beschränkung mehr auf sexualisierte Geschlechtsidentitäten, womit in den Religionen seit Jahrhunderten das Verhalten zwischen Frauen und Männern reguliert werde.
Und so schickte die Referentin die zahlreichen Besucherinnen und Besucher mit einer Vision auf das von Hans Küng angestossenen Projekt auf die Weiterreise: «Was wäre, wenn ein Weltethos (…) verlangt, dass die Religionen Frieden stiften, indem sie der Geschlechtergerechtigkeit dienen - als unverzichtbarem Teil der Menschenrechte?»
*Küng, Hans: Projekt Weltethos. München/Zürich 1990 (Piper).
Aufzeichnung der «Hans Küng – Weltethos Lecture» mit Prof. Dr. Azza Karam
Hans Küng - Weltethos Lecture
Die jährlich Ende November stattfindende öffentliche «Hans Küng – Weltethos Lecture» wird von der Theologischen Fakultät der Universität Luzern (Institut für Sozialethik ISE und Ökumenisches Institut Luzern) in Zusammenarbeit mit der Stiftung Weltethos Schweiz verantwortet. In dieser Reihe sollen die Schwerpunkte des von Hans Küng postulierten Weltethos – Friedensethik, Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit, Wirtschaftsethik, Verpflichtung zu Toleranz und Wahrhaftigkeit sowie ergänzend Nachhaltigkeit – diskutiert und weiterentwickelt werden.
Die nächste «Weltethos Lecture» hält der Ökonom Prof. Dr. Nils Goldschmidt von der Universität Siegen am 24. November 2025 zum Thema «Globale Ungleichheit».
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