«Die Gesellschaft steckt in einer Leadership-Krise»

Vom 20. bis 21. Juni 2024 fand an der Universität Luzern die «Internationale Tagung zu Leadership und Theologie» statt. Diese widmete sich der Frage, was mit dem Spirit in der Führung geschieht oder geschehen ist. Über 30 Forschende teilten in sechs Keynote-Referaten und weiteren Präsentationen ihre Erkenntnisse miteinander aus.

Teilnehmende der Konferenz zum Thema Leadership und Theologie

Die Universität Luzern mit ihrer Professur für Pastoraltheologie und das Institut für Leadership und Sozialethik (ILSE) der Evangelischen Theologischen Faculteit, Leuven, Belgien (ETF) organisierten eine zweitägige internationale Konferenz zum Thema Leadership und Theologie.

Patrick Renz*, einer der Organisatoren, erklärt im Gespräch, warum die theologische Sichtweise auf Leadership nicht nur für die Kirche einen klaren Nutzen bringt.

Mitorganisatoren der Konferenz «Theologie und Leadership»: Prof. Dr. Christian Preidel (l.) und Dr. Patrick Renz

Patrick Renz, wie entstand die Idee, eine solche Tagung durchzuführen?

Patrick Renz: Im belgischen Leuven findet alle zwei Jahre eine solche Konferenz statt, an der ich teilnahm. So kam ich auf die Idee, dies internationaler und in einer Partnerschaft durchzuführen. Mit der Universität Luzern war die Ausgangslage ideal, um eine gewisse Sichtbarkeit zu garantieren, obwohl das Thema noch ganz am Anfang steht. Es gibt noch keine etablierte Community zum Thema Theologie und Leadership. Wir wollten also Menschen zusammenbringen und ein Netzwerk aufbauen sowie Forschung breiter diskutieren.

Wie bringt man Theologie und Leadership zusammen, also eine Wissenschaft, die sich mit Gott, Glauben und Schriften zu diesen Themen befasst sowie einen Führungsansatz?

Das werde ich oft gefragt. Es ist auf jeden Fall kein Copy-Paste von bestehenden Ansätzen, sozusagen ein Church-Management. Und es geht auch nicht darum, Management christlicher zu gestalten, auf die Bibel zurückzugreifen, die berühmte Parabel vom guten Hirten zu bemühen und dergleichen. An der Universität Luzern schauen wir auf kleine Einheiten, zum Beispiel eine kleine Gemeinde und fragen, wie erreicht man, dass diese aufblühen kann. Mit dem Grundsatz «wo zwei oder drei in seinem Namen zusammen sind» gibt es für die Führungskraft Fragen wie: Was kann ich, darf ich, soll ich machen? Was auf keinen Fall? Es ist ein sozialkonstruktivistischer Zugang bei dem man sich im Diskurs der Frage annähert, was bedeutet Kirche? Oder: Was ist aus unserer Sicht eine Gemeinde, eine Gemeinschaft und wie sollte diese geführt werden?

Also nicht einfach Führungsrezepte überstülpen.

Keineswegs. Wir gehen einen Schritt zurück und schauen hinter bekannten Führungsrezepten.

Nun ist Leitung in der Kirche durch Ordination legitimiert, was auch Stephan Schmid-Keiser an der Tagung thematisierte. Wie kann sich Leadership in einem solch definierten Umfeld entwickeln?

Zunächst muss man sich fragen, was Leadership überhaupt bedeutet. Und wenn man den Diskurs darüber betrachtet, nicht nur aus der Sicht der Theologie, sondern generell, entdeckt man unterschiedliche Aspekte. Es gibt unzählige Leadership-Bücher, die aber meist gar nicht definieren, welche Art Leadership gemeint ist. Ähnlich sieht es bei der theologischen Betrachtungsweise des Themas aus. Generell geht man von einem Leader und Follower aus, in der es um Beziehungen geht, um das Umfeld, und es geht um Identitäten, also zum Beispiel auch Gruppenidentitäten. Das sieht man gut bei populistischen Leadern, die virtuos darin sind, Gruppenidentitäten zu manipulieren und sich selber als Teil dieser Gruppe darzustellen . So setzen sie Macht und Leadership manipulativ ein. Es macht Sinn, sich bereits im Kleinen zu fragen, wo Leadership beginnt. Catharina Buschmann-Kramm hat zum Beispiel untersucht, wo genau Leadership-Ansprüche in einer Pfarrei bestehen. Sie entdeckte hierarchische-, projektbezogene-, selbstorganisations- sowie Netzwerk-Leadership-Momente nebeneinander und jedes Moment ist anders, mit anderen Ansprüchen an die Führungskraft.

Wenn das Umfeld aber keine Entwicklung zulässt, zum Beispiel durch starre Strukturen in gewissen Kirchen, und auch einen Diskurs über Leadership, über Sinnhaftigkeit nicht zulässt, wird es doch schwierig, oder nicht?

Das stimmt, Leadership ohne Umfeld funktioniert nicht. Im Kontext von Kirchen geht es aber grundsätzlich um «Kirche sein». Dabei ist Kirche nicht das Gebäude, nicht der Pfarrer oder die schöne Kirchenmusik. Kirche sind wir alle. Strukturen können sehr starr sein, aber in diesen Strukturen sind Menschen. Die Frage ist, nehmen sie ihre letztlich Glaubens-fördernde Aufgabe wahr oder verstecken sie sich hinter Strukturen? Der Auftrag durch das Evangelium wäre klar. Strukturen werden nur dann agiler, wenn wir auch im Alltag Dinge als das entlarven, was die Psychologie als die dunkle Triade benennt: Narzissmus, Machiavellismus, Psychopathie und so weiter, oder was in der Führung als toxische oder destruktive Leadership bezeichnet wird. Ein renommierter Theologe betonte kürzlich: Wir brauchen eine neue Dämonologie. Oder eine neue Sensibilität und Wachsamkeit struktureller Gewalt und Verantwortungsvermeidung gegenüber.

Referent Paul Zulehner an der Konferenz

Ist denn Leadership als Thema präsent in der kirchlichen Ausbildung?

Nur als Zusatzmodul, aber der Konsens wächst, dass es generell wichtig wäre. Der emeritierte Professor Paul Zulehner hat an der Tagung gefordert, dass ein interdisziplinär getragener Kurs «Leiten in der Kirche» künftig im Aus- und Fortbildungsprogramm einer praxisnahen Theologischen Fakultät zu finden sein sollte. In Luzern haben wir begonnen, uns mit dem Thema zu befassen. In einem neuen «MAS in Leadership and Purpose» (siehe Newsmeldung) und mit Bachelor-Seminaren hinterfragen wir Ansätze dialogisch und kritisch und bringen so den Diskurs weiter. Absolvierende üben Alltagssituationen mit komplett neuen Settings. Dabei geht es auch viel um ein Ent-Lernen und Neu-Lernen.

An der Tagung waren unterschiedliche Kirchen anwesend, von der evangelischen, über die römisch-katholische bis hin zur anglikanischen. Rita Famos, Pastorin und Präsidentin der protestantischen Kirche Schweiz, hat dabei ein Leitungsbild beschrieben, dass sich stark von jenem der römisch-katholischen Kirche unterscheidet. Wie geht man mit diesen Unterschieden um?

Ich denke, die Gesellschaft steckt mit all den Organisationsskandalen, Unternehmenskollapsen sowie dem damit verbundenen Vertrauensbruch generell in einer Leadership-Krise. Leadership ist also nicht nur ein kirchliches, sondern generell ein gesellschaftliches Thema. Die Kirchen suchen nach neuen Konzepten. Die anglikanische bspw. mit ihrem Konzept «Fresh Expressions of Church», also neuen Ausdruckformen für Kirche. Die Unterschiede erschweren in der Tat den Austausch, oder vereinfachen ihn vielleicht sogar. Papst Franziskus hat ja dazu aufgerufen, Kirche neu zu denken, neu zu erleben, von der Basis her. In der römisch-katholischen Kirche machen wir aber oft den Fehler, sofort in Strukturen zu denken mit all den Entscheidungsrechten, bevor man Grundsätzliches diskutiert. Also zum Beispiel: Wie kommen wir als Basis zu einem Austausch über Kirche-sein und nicht Kirche sofort gleichzusetzen mit Bischof, Pastoralleitung oder Papst.

Diese Strukturen sind aber Realität und zeigen auf, wie unterschiedlich die Ausgangslage jeweils ist.

Die Ausganglage ist anders, das ist so, aber wir sind nicht meilenweit voneinander entfernt. Die Worte von Rita Famos, die eine Leitung auf Augenhöhe beschrieben, sind ermutigend. Die Hoffnung ist, dass Kirche nicht einfach durch die Führung definiert wird, sondern auch durch das Volk Gottes zur Kirche wird, durch die Basis also, Glaubende, Suchende wie Kritische. Einem Volk, das ebenfalls berufen ist oder sich zumindest berufen fühlt.

Jack Barentsen, Mitorganisator aus Leuven, sprach an der Tagung von einer relationalen Führung, also von einer Beziehungsgestaltung auf Augenhöhe. Ein Konzept, welches gemäss Barentsen die Identität der Kirche verändern könnte. Wie kommen nun nun Organisationen, in welchen Leitungen durch Strukturen geschützt werden, zu einer solch relationalen Führung?

Paul Zulehner hat dazu die Frage eingebracht, ob es überhaupt noch eine Ordination brauche. Seine Antwort: Ja, aber er brachte auch ein Beispiel von einer Gemeinde in Südafrika ein. Dort wurde die Gemeindeleitung durch die Gemeinde ausgewählt und damit sozusagen ordiniert. Natürlich spielen so auch Sozialgefüge eine Rolle, aber wenn es eine christlich inspirierte Gemeinde ist, dann müsste man annehmen können, dass sich in der Beurteilung die passende Art der Führung herauskristallisieren kann. Übrigens werden auch in der Wirtschaft Führungskräfte in Positionen «ordiniert», und es wird damit ihre Machtposition legitimiert.

Aus Umfragen und Studien weiss man, dass längt nicht alle Manager und Kaderleute glücklich sind in ihren Jobs. Die Frage nach dem Sinn, der Sinnhaftigkeit der Arbeit ist also ein Thema für Führungskräfte.

Judith Klaiber hat ihren Input an der Tagung mit dem Wortspiel betitelt: «Macht.Leaderhip.Sinn?» Damit sind wir mittendrin bei den Themen, welche die Theologie einbringen könnte. Bei den Sinnfragen, der Spiritualität, in welcher Form auch immer diese gelebt wird. Es ist ja erschreckend, dass Top-Kaderleute oft unfähig sind, ihr Leadership zu beschreiben, einem Sinn in ihrem Leadership nachzugehen oder auch nur darüber nachzudenken. Mehrere Wissenschaftler aus angrenzenden Disziplinen erklärten, dass Führungskräfte nie gelernt haben, sich auf eine solche Diskussion einzulassen und ihre emotionalen sowie mentalen Fähigkeiten zu entwickeln, um solche Themen zu reflektieren.

Dennoch ist bereits vieles angekommen in den Führungsetagen grosser Firmen. Achtsamkeit ist ein beliebtes Thema, Softskills werden betrachtet, Meditationsräume eingerichtet oder Yoga angeboten. Die Nachfrage sowie die Suche nach Sinnhaftem scheinen also da zu sein.

Die Nachfrage ist riesig. Und vieles wird einfach mal ausprobiert. Es ist daher so gesehen erstaunlich, dass Theologie und Leadership erst jetzt zum Thema wird. Denn Theologie kann genau diese Themen ansprechen.

Wobei das sich ja nicht nur auf die Theologie als Wissenschaft beschränken wird, oder?

Es ist, ja muss ein interdisziplinärer Diskurs sein. Das ist aber alles andere als einfach, weil es da sogar technische und strukturelle Barrieren gibt, zum Beispiel weil Arbeiten unterschiedlich indexiert werden oder methodisch anders geforscht wird. Es gilt nun, diesen interdisziplinären Diskurs anzugehen und den wissenschaftlichen Austausch zu fördern.

Oft ist die Rede vom Spirit einer Firma, eines Teams, dem guten Geist. Das müsste doch eine gute Basis für die Theologie sein, hier mitzureden.

Absolut. Kuno Gut und Bruno Frischherz haben betont, dass wenn man Theologie und Leadership zusammenbringt, zwei Aspekte zusammenkommen, die im Vorfeld nicht zusammen gedacht worden sind. Nämlich Nachhaltigkeit und Spiritualität. Der Nachhaltigkeitsdiskurs wird damit neu verankert. An der Konferenz ist dies gut gelungen. Ein guter Geist in der Gruppe ist dabei nicht nur theologisch spirituell gedacht, die Theologie hat aber die Möglichkeit, Inspirationen anzubieten, auch in einer Interdisziplinarität um zu schauen, was möglich ist. Mit dem neuen Ausbildungsstudiengang «MAS in Leadership and Purpose» kann in einem breiten Spannungsfeld viel entstehen. Es geht um Fragen wie, was ist der Geist, die Essenz meiner Führung, und wir haben angesprochen, dass es Führungskräften schwer fällt, solche Fragen anzugehen. Aus der Tagung hat sich darum eine These entwickelt: Wenn wir den Geist nicht beschreiben können, dann können wir Führung nicht beschreiben.

Aber der Geist allein nützt ja nicht, wenn eine KMU mit Problemen konfrontiert ist, die sie nicht selber verschuldet hat. Wie das zum Beispiel während der Pandemie der Fall war.

In solchen Momenten tauchen aber Fragen auf wie: Haben wir einen Zusammenhalts-, Lösungsfindungs-, sich-gegenseitig-stützen-Geist? Sehen wir in allem auch Chancen oder herrscht ein destruktiver Geist, ein Geist des Gegeneinanders? Für solche Fragen braucht es auch noch andere Disziplinen wie die Psychologie. Wir benötigen einen innovativen Diskurs, um Dinge neu zu denken.

Zwei Tage mit rund 30 Referentinnen und Referenten, intensiven Diskussionen, Fragen und Antworten. Welches Fazit ziehen Sie aus dieser ersten Internationalen Konferenz Theologie und Leadership in Luzern?

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der ganzen Welt mit unterschiedlichen Hintergründen haben ihre Inputs eingebracht und sich einem Dialog gestellt. Wir alle haben gespürt, da ist etwas, das müssen wir weiter diskutieren. Ich spreche damit nicht nur das Thema an, sondern auch den Geist dieser Tagung. Uns war allen klar, da muss definitiv mehr als nur eine erste Konferenz anvisiert werden, um auch als Forschungscommunity zusammen-wachsen zu können. Etwas wirklich Beeindruckendes ist während dieser Tagung passiert. Wir spürten alle, dass da ein guter Spirit herrschte, und für mich persönlich war klar, wir waren nicht alleine.

Interview: Claudio Brentini

* Dr. oec. HSG Patrick Renz ist Forschungs- und Lehrbeauftragter an der Theologischen Fakultät Luzern und leitet den Schwerpunkt «Theologie und Leadership». Er hat gemeinsam mit Prof. Dr. Christian Preidel, Professor für Pastoraltheologie der Theologischen Fakultät Luzern, und der Evangelischen Theologischen Fakultät Leuven die Tagung «Theologie und Leadership» in Luzern organisiert.
 

Neue Weiterbildung

Der neue Master of Advanced Studies (MAS) in Leadership & Purpose, der im November 2024 startet, bietet eine einzigartige Weiterbildung mit universitärem Abschluss. Dieser Studiengang umfasst zwei Certificate of Advanced Studies (CAS), das eine in «Reflective Leadership» und das andere in «Leadership and Purpose». Innovativ sowohl inhaltlich als auch methodisch, ermöglicht das Programm den Teilnehmenden, interdisziplinäre Diskurse zu erleben und in praxisnahen Umsetzungsräumen zu erproben.

Mehr Informationen: www.unilu.ch/thls