Aphorismen auf der Spur
Einmal in der Woche trifft sich eine Gruppe von Philosophiestudierenden der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät mit dem Ziel, über die Kürze von Aphorismen hinauszuschauen. Nebenbei erhalten sie dafür Social Credits.
Am Anfang stand der Küchenkalender seiner Mutter, der für jeden Tag ein geflügeltes Wort bereithielt. Philosophiestudent Nicolas Stilter hatte bereits vorgehabt, im Frühjahrssemester 2022 einen Lektürekreis für philosophische Texte zu gründen. Um welche Texte es genau gehen soll, entschied er aber erst in den vergangenen Semesterferien. Inspiriert durch ebendiesen Küchenkalender, begann er sich dem Themenbereich rund um Aphorismen zuzuwenden. «Mir fiel beim Betrachten des Kalenders auf, dass Aphorismen häufig aus dem Kontext herausgerissen werden.» Und natürlich seien diese Zitate kraftvolle Destillationen riesiger Gedankenkonstrukte, aber ohne Kontext sei dies oftmals nicht mehr nachvollziehbar.
Weisheiten «to go»?
Sehr häufig würden Aphorismen auch ohne Zusammenhang auf Social-Media-Kanälen als «tägliche Portion Weisheit» herumgereicht, bemerkt der 23-Jährige. «Ich finde es eigentlich schön, wenn sich Menschen in ihrem Alltag mit Philosophie beschäftigen.» Aber auf diese Art würden Aphorismen zu etwas verkommen, was sie nicht sind – zu Weisheiten «to go» – und das stört ihn. Im wöchentlichen Lektürekreis, welcher zehn Teilnehmende umfasst, soll eben gerade das nicht passieren. «Jede Woche tragen die Studierenden vorbereitete Aphorismen vor, über die wir dann in der Gruppe eingehend diskutieren.» Oberflächlichkeit hat in diesem Setting also nichts verloren.
Von Epiktet und den Stoikern...
Die Texte, welche von der Gruppe bearbeitet werden, stammen von Epiktet, Marc Aurel, Nietzsche sowie Schopenhauer. Einer der behandelten Aphorismen des antiken Philosophen Epiktet lautet folgendermassen:
«Worüber wir gebieten und worüber wir nicht gebieten: Über das eine gebieten wir, über das andere nicht. Wir gebieten über unser Begreifen, unsern Antrieb zum Handeln, unser Begehren und Meiden, und, mit einem Wort, über alles, was von uns ausgeht; nicht gebieten wir über unsern Körper, unsern Besitz, unser Ansehen, unsere Machtstellung, und, mit einem Wort, über alles, was nicht von uns ausgeht.»
Epiktet zählt zu den einflussreichsten Vertretern der späten Stoa, was in dieser kurzen Textpassage gut zum Ausdruck kommt. Die philosophische Lehre, die den Stoikern ihren Namen gab, zeichnet sich vor allem durch das Hochhalten von Selbstbeherrschung und Gelassenheit aus.
Der Lektürekreis kam in diesem Zusammenhang vor allem auf die Frustration zu sprechen. Epiktet gibt den Ratschlag, sich strikt an seine im Aphorismus festgehaltene Taxierung zu halten und sich nicht darüber zu vergrämen, wenn etwas schiefläuft, was nicht in unserer Kontrolle liegt. Darunter liegt der Kerngedanke, sich nicht den von der Stoa als negativ bewerteten Emotionen wie Wut oder Rachegelüste hinzugeben, sondern stets Gemütsruhe zu bewahren.
... und darüber hinaus
Würde man diesen epiktet’schen «Life-Style-Tipp» nur isoliert betrachten, weil eben bloss ein Kalenderspruch gelesen wurde, könnte man ihn allerdings zu unkritisch und als unbedingt befolgenswert eintaxieren. Demgegenüber debattierten die Studierenden, ob es nicht durchaus auch sinnvoll sein kann, in gewissen Situationen Emotionen wie Wut, Zorn oder Frustration zu zeigen. Denn immerhin gibt es oftmals gute Gründe, weshalb ein Mensch mit Gefühlen dieser Gattung reagiert. Werden beispielsweise Grenzen überschritten oder Werte verletzt, kann Wut und Frustration einem Individuum dabei helfen, diese zu verteidigen und sich selbst zu schützen.
Inspirierende Treffen
Das Ganze aufzuziehen und zu organisieren, fiel dem Philosophiestudenten bis jetzt nicht schwer, im Gegenteil – er hat grossen Spass daran. Zu seiner Freude ist der Lektürekreis ein Format, das an der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät als Social-Credit-Projekt organisiert werden kann. Dazu verfassen alle Teilnehmenden innerhalb des Semesters ein Protokoll. So ist gewährleistet, dass auch etwas hängenbleibt und alle Studierenden im Lektürekreis involviert sind.
Und vielleicht lässt sich das Projekt auch anderweitig weiterführen: Stilter überlegt sich, zu einem späteren Zeitpunkt eine Arbeit oder ein Essay zu diesem Thema zu verfassen. «Es wäre wohl eine grosse Herausforderung», fügt er hinzu. Aus dem Lektürekreis hat er auf jeden Fall einige Inspiration dazu sammeln können.
Zweck von Social Credits
An der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät müssen Studierende sowohl im Bachelor als auch im Master mindestens 2 Social Credits (SCr) erwerben. Diese Credits für Sozialkompetenz dienen der Einbindung der Studierenden in die Institution Universität und sollen studentische Arbeitsformen fördern.
Neben der Organisation von Lektürekreisen können SCr auch durch die Mitarbeit in Forschungsprojekten, Engagement in studentischen Organisationen wie den Fachschaften oder für die Leitung von Tutoraten erlangt werden. Studierende werden ermuntert, selbst Projekte zu entwickeln, welche ihr studentisches Engagement widerspiegeln.