Corona in der Schweiz - Plädoyer für eine evidenzbasierte Pandemiepolitik
In ihrem neuen Buch "Corona in der Schweiz" werfen Konstantin Beck und Werner Widmer einen kritischen Blick auf die Schweizer Pandemiepolitik der letzten Monate. Im Interview erklären die beiden Dozenten, weshalb sie die Pandemiemassnahmen kritisieren und was sie mit ihrer Publikation zur öffentlichen Debatte beitragen wollen.
Das am 7. Dezember publizierte Interview hat vielfältige Reaktionen ausgelöst. In einer Ergänzung am Ende des Textes wird darauf eingegangen.
In Ihrem Buch plädieren Sie für eine evidenzbasierte Pandemiepolitik. In welchen Punkten sehen Sie die aktuelle Corona-Pandemiepolitik der Schweizer Regierung als ungenügend auf die relevanten wissenschaftlichen Erkenntnisse abgestützt?
Werner Widmer: In der ersten Welle (März-Juni) basierte die Pandemie-Politik vorwiegend auf Einzelereignissen: schreckliche Bilder aus Norditalien, erste Todesfälle in der Schweiz, einzelne Forschungsergebnisse, die wenig später überholt wurden, viele Todesfälle in einem einzelnen Pflegeheim. Solche Ereignisse haben anekdotischen Wert, sie repräsentieren nicht das ganze Bild. Eine evidenzbasierte Pandemie-Politik muss sich auf repräsentative Fakten stützen. Da sich die Virologen bis anfangs 2020 kaum für das Coronavirus interessiert haben und die Epidemiologen auch nur erste Studien vorlegen konnten, plötzlich aber weltweit massiv geforscht und publiziert wurde, verkam die Pandemie-Politik zu einer Art «angewandter Epidemiologie auf dem aktuellen Stand des Irrtums». Der Bundesrat ging nicht auf den Vorschlag der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Uni Zürich ein, eine repräsentative Stichprobe der Schweizer Bevölkerung vollständig zu testen.
Konstantin Beck: Die aktuelle Politik ist zwar deutlich zurückhaltender als es die Politik im Januar war. Aber dennoch werden die Massnahmen immer noch mit den hohen Positiv-Test-Raten begründet, obwohl inzwischen hinlänglich bekannt ist, dass ein positiver Test nur für bestimmte, eher kleine Risikogruppen eine Gefahr darstellt. Die meisten Personen, die sich heute infizieren, haben ein Mortalitätsrisiko von null Prozent. Und das zweite Risiko der schweren Krankheitsverläufe ist auch nach neun Monaten Pandemie statistisch immer noch völlig schwammig und wird beispielsweise vom BAG nicht einmal kommuniziert. Das erstaunt, angesichts der vielfältigen und substantiellen Nebenwirkungen der Massnahmen.
Zu den Beweggründen für Ihre Publikation schreiben Sie, dass sie damit im Rückblick möglichst vieles festhalten wollen, das uns in einer kommenden Pandemiekrise helfen könnte, eine solche mit weniger finanziellem Aufwand und weniger immateriellem Schaden zu bewältigen. Welche Aspekte sind für eine solche Bewältigung besonders wichtig?
Werner Widmer: Bevor man über Massnahmen diskutiert, sollte man sich einig werden, was überhaupt das Problem ist. Die WHO spricht von einer Pandemie, wenn ein neues Virus, gegen das kein Impfstoff vorliegt, sich weltweit verbreitet. Ob das Virus eine gefährliche oder harmlose Krankheit verursacht, wird dabei nicht berücksichtigt. Das ist u.E. ein krasses Manko, denn es ist nicht das Gleiche, ob eine Krankheit zum Tod von an sich gesunden jungen Menschen führt oder zum Tod von hochbetagten, mehrfach chronisch erkrankten Menschen. Im ersten Fall gehen viele Lebensjahre verloren, im zweiten nur wenige. Die Gefährlichkeit des Virus ist also eine zentrale Grösse. Von ihr hängt die Verhältnismässigkeit der Massnahmen ab. Bei der Schweizer Pandemie-Politik ging es eigentlich ausschliesslich darum, den Tod um jeden Preis zu vermeiden. Zwar wurden mehr als die Hälfte der Corona-Todesfälle in Pflegeheimen verzeichnet, aber ein Mehrfaches von Pflegeheimbewohnern sind in der gleichen Zeit ohne Corona verstorben. Sie waren wie alle Heimbewohner isoliert, durften nicht besucht werden und durften auch das Heim nicht verlassen. Sie starben einsam – um vor dem Virus geschützt werden. Das ist absurd.
Einen zweiten Lockdown erachten Sie nicht nur als unverhältnismässig, sondern als zerstörerisch. Aus welchen Gründen kommen Sie zu diesem Fazit?
Werner Widmer: In der ersten Welle folgte nach einer Phase der Übersterblichkeit, in der es mehr Todesfälle gab als im Vorjahr, eine Phase der Untersterblichkeit. In der Summe gab es von Januar bis anfangs Oktober 2020 in der Schweiz gleich viele Todesfälle wie im Vorjahr. Das heisst, die 2000 Corona-Todesfälle kamen nicht einfach zu den «normalen» Todesfällen dazu, sondern betrafen in vielen Fällen Menschen, die auch ohne Corona bald gestorben wären. Zurzeit befinden wir uns wieder in einer Phase der Übersterblichkeit, aber wir erwarten in den kommenden Monaten eben auch wieder eine Phase der Untersterblichkeit. Wenn Menschen wegen einer Pandemie einige Wochen oder wenige Monaten früher sterben, ist das im Einzelfall zu bedauern, tragisch, ungerecht, unverdient. Aber rechtfertigt das Massnahmen, die das wirtschaftliche kulturelle, sportliche und religiöse Leben der Gesellschaft radikal einschränken? Rechtfertigt das Massnahmen, die Hunderttausende in monatelange Ängste versetzen? Rechtfertigt es deren zunehmende psychische Verletzlichkeit bis zum Suizidrisiko? Rechtfertigt das die Qualitätseinbussen in der Bildung? Es geht um eine Güterabwägung, um die Verhältnismässigkeit.
Einer Ihrer Kritikpunkte an der Pandemiepolitik des Bundes betrifft den fehlenden Einbezug der Eigenverantwortung. Inwiefern sollte dieser in der Bewältigung einer Pandemie mehr Platz eingeräumt werden?
Werner Widmer: Eigenverantwortung bedeutet nicht, dass das Volk freiwillig machen soll, was ihm der Bundesrat sonst befehlen würde. Wie jede Art von Verantwortung setzt auch Eigenverantwortung eine gewisse Freiheit voraus. Wem keine Freiheit zugestanden wird, von dem kann auch keine Verantwortung verlangt werden. Eigenverantwortung in der Pandemie könnte zum Beispiel heissen, dass die Personen mit hohem Risiko sich so weit wie möglich selber schützen und dass auch die Personen mit kleinem Risiko selber bestimmen, wie sie mit ihrem Risiko umgehen wollen. Die Politik sollte nur vorgeben, wie alle sich gegenüber Personen mit hohem Risiko verhalten müssen. Mit den heutigen Massnahmen, wie Maskenzwang im ÖV, social distancing schützen wir in den allermeisten Fällen Gesunde vor nicht-Infizierten.
An welchen Stellen ist ein starker Lead gefragt?
Werner Widmer: Wie gesagt, sollte der Bund vorschreiben, wie wir uns gegenüber vulnerablen Personen verhalten müssen. Aber nur gegenüber vulnerablen Personen, die selber auch geschützt werden wollen und die erforderliche Isolation in Kauf nehmen wollen. Gespräche mit Leiterinnen und Mitarbeitenden von Pflegeheimen zeigen allerdings, dass ein Teil der 90'000 Pflegeheimbewohner, und das ist der vulnerabelste Teil der Bevölkerung, es vorzieht, mit den Angehörigen Kontakt zu haben und das Risiko eines vorzeitigen Todes in Kauf nehmen.
Konstantin Beck: Dazu kommt, dass die Krise im März zwar mit einer im Epidemie-Gesetz vorgesehenen Erstarkung der Exekutive einherging. Das ist grundsätzlich nicht falsch. Nicht vorgesehen war jedoch die überraschende Selbstentmachtung des Bundessparlaments. Gerade wenn die Exekutive an Macht gewinnt, wäre ihre verstärkte Kontrolle im Sinne der Machtbalance zwingend. Diese Schweizer «Checks and Balances» hat unser Parlamentsmehrheit lange Zeit überhaupt nicht verstanden.
Für Ihre Analysen und Thesen habe Sie eine grosse Menge an Daten erhoben und umfassende Recherchen betrieben. Was war dabei besonders herausfordernd?
Konstantin Beck: Das Herausforderndste war die permanente, rasche, ja überraschende Entwicklung der Pandemie. Das Buch beschäftigte sich lange mit dem, was uns im Sommer als «zweite Welle» verkauft worden ist. Nach Ausbruch der richtigen zweiten Welle Ende September sprach kein Mensch mehr von dieser Zwischenphase. Das bedingte, dass im ganzen Buch der Begriff «Zwischenphase» einzufügen war. Schliesslich behalfen wir uns folgendermassen: Wir definierten immer sehr genau, auf welchen Zeitraum sich Daten oder Aussage beziehen. Zudem fügten wir kurz vor Veröffentlichung und nach Abschluss von Lektorat und Layout ein letztes Kapitel an, welches das Buch noch einmal aktualisierte. Und schliesslich verzichten wir auf Prognosen. Wir beurteilen lediglich das bisher Bekannte. Es gab einzelne Stimmen die uns rieten, abzuwarten bis die Pandemie als Ganzes beurteilt werden könne, die uns sagten, unser Buch sei zu früh. Aber angesichts der Schäden und Kosten der Pandemie-Politik wollten wir nicht im Rückblick verkünden, was dann offensichtlich sein wird. Damit gehen wir natürlich ein Risiko ein, aber Risiko ist immer Teil eines aktiven Lebens.
In Zusammenhang mit der Corona-Pandemie gibt es eine wahre Flut an Informationen, die uns auf den unterschiedlichsten Kanälen erreichen. Welche Ratschläge haben Sie, um Fake News von seriösen und wissenschaftlich fundierten Meldungen unterscheiden zu können?
Konstantin Beck: In der aktuellen Berichterstattung sehen wir vor allem zwei Gefahren: Verzerrte Statistiken und komplette Falschmeldungen. Zu den Verzerrungen, dem Framing, gibt das Buch, neben einer Reihe illustrierender Fallbeispiele ganz konkrete Tipps: Wird mir eine Zahl isoliert präsentiert oder in sinnvollen Kontext? Wird die Zahl kumuliert und ist das sinnvoll? Sehe ich einen eingeschränkten Zeitraum oder nur einen Zeitpunkt und warum? Kann die gezeigte Zahl tatsächlich belegen, was diskutiert wird? Fehlt es an Zahlen und wird nur von «es gibt», «es kommt vor», «es ist nicht auszuschliessen, dass» gesprochen? Und bei Prozent-Zahlen: Ist mir klar, was die 100%-Basis ist? Beim zweiten Problem der Verschwörungstheorien gibt es auch ein paar einfache Kriterien: Hat sich der oder die Betreffende auch schon vor Corona zum Thema geäussert? Weist ein Exponent, der von den Medien geschmäht oder missachtet wird, besondere wissenschaftliche Ehrungen wie einen Nobelpreis auf? Äussern sich Forscher oder Forscherinnen zu Themen, von denen sie auf Grund ihres Fachgebiets etwas verstehen, oder gehen ihre Aussagen darüber hinaus? Gibt es andere, die mit eigenen Daten zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommen?
Ergänzung vom 16. Dezember
Das am 7. Dezember aufgeschaltete Interview hat zu einer Konfusion bei manchen Leserinnen und Lesern geführt, die es so verstanden, dass die Universität die Covid-19-Massnahmen der Behörden in Frage stelle. Was sagen Sie dazu?
Konstantin Beck: Das Buch und das Interview sind die Aussagen zweier Dozenten, also zweier Mitarbeiter der Universität. Daraus lässt sich nicht die Position der Universität ableiten. Diese beiden Dinge muss man ganz klar auseinanderhalten.
Es gab auch inhaltliche Kritik, etwa an den wissenschaftlichen Methoden oder in ethischer Hinsicht.
Konstantin Beck: Grundsätzlich ist Kritik immer willkommen und üblich bei wissenschaftlichen Beiträgen. Unser Buch ist in der Sprache populärwissenschaftlich, inhaltlich aber sachlich und faktenbezogen. Alle Aussagen werden mit Zitaten und Quellenangaben belegt. Bei Zahlenangaben sind immer peinlichst genau Zeitrahmen und Quelle angegeben. Die meisten Statistiken beziehen sich zudem auf Daten des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Von den zahlreichen direkten Feedbacks, die wir bereits erhalten haben, bezogen sich nur zwei auf inhaltliche Fehler: Ein (inzwischen korrigierter) Layout-Fehler in einer Tabelle und eine Verwechslung von «weltweit» mit «in Grossbritannien» (S. 80). Also relativ marginale Punkte.
Werner Widmer: Zur Frage der Ethik: Vor der Veröffentlichung unterbreiteten wir den Text unter anderem auch einer Medizinethikerin. Sie unterstützt die Verbreitung des Textes aktiv. Bei der Beurteilung der Corona-Massnahmen geht es um die klassische ethische Frage der Güterabwägung: Ist der Schaden, der dank den Massnahmen vermieden wird, grösser als der Schaden, den die Massnahmen verursachen? Auf diese Frage gehen wir im Buch ausführlich ein.
Seit Veröffentlichung Ihres Buchs und seit dem Interview hat sich die Corona-Lage weiter zugespitzt. Ändert dies etwas an Ihrer Einschätzung?
Werner Widmer: Unser Buch beschreibt die Entwicklung bis anfangs Oktober. Die Erkenntnisse, die wir aus der Analyse der Pandemie-Politik in der ersten Welle (März bis Juni) und in der Zwischenphase (Juli bis September) gewonnen haben, sind nach unserer Einschätzung auch für die zweite Welle (ab Oktober) brauchbar.
Konstantin Beck: Auch in der zweiten Welle müssten unserer Ansicht nach die getroffenen Massnahmen ins Verhältnis zu den zu erwartenden Nebenwirkungen wie psychischer Gesundheit, ökonomischer Schäden etc. gesetzt werden. Und unser Hauptkritikpunkt bleibt bestehen: Für zentrale Grössen, wie z.B. die Häufigkeit der schweren aber nicht tödlichen Krankheitsverläufe, fehlen valable Daten. Das empfinden wir angesichts er langen Dauer der Pandemie, als ein schwer verständliches Versäumnis.
Prof. Dr. Konstantin Beck ist Titularprofessor für Versicherungsökonomie an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern. Er betätigte sich 20 Jahre als Versicherungsmathematiker und verantwortlicher Aktuar und leitete von 2007 bis 2020 das CSS-Institut für empirische Gesundheitsökonomie in Luzern. Beck war an diversen Schweizer Universitäten und Hochschulen als Dozent tätig.
Dr. Werner Widmer hat derzeit einen Lehrauftrag in Spitalmanagement an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern inne. Er ist ehemaliger Direktor der Stiftung Diakoniewerk Neumünster und leitete vier Schweizer Spitäler, darunter das Universitätsspital Zürich. Widmer war Mitglied in den Stiftungs- und Verwaltungsräten verschiedener gesundheitlicher Organisationen und amtet aktuell als Präsident der Krebsliga Zürich.
Das Buch «Corona in der Schweiz – Plädoyer für eine evidenzbasierte Pandemiepolitik» kann auf der folgenden Website heruntergeladen oder als gedruckte Version bestellt werden.